18 Geisterstories
mit Ihnen gehen. Warum suchten Sie nicht schon früher ärztlichen Beistand?«
»Weil es früher so nutzlos gewesen wäre, wie es jetzt auch ist«, entgegnete die Unbekannte, schmerzlich die Hände zusammenschlagend.
Der Arzt warf seinen forschenden Blick auf den schwarzen Schleier. Er hätte gar zu gern den Ausdruck des darunter verborgenen Antlitzes beobachtet; allein der Schleier war zu dicht, als daß unser Freund auch nur einen Zug zu erkennen imstande gewesen wäre. »Sie sind wirklich krank«, sagte er mild, »obgleich Sie es nicht wissen, und leiden an einem heftigen Fieber, das Ihnen die Kraft leiht, Ihre Anstrengungen zu ertragen, ohne sie zu fühlen.« Er reichte ihr ein Glas Wasser und setzte hinzu: »Trinken Sie, suchen Sie sich zu fassen, sagen Sie mir dann, wie lange der Patient schon leidet, und beschreiben Sie mir, so ruhig Sie können, die Krankheit. Ich werde daraus abnehmen, womit ich mich versehen muß, um meinen Besuch nützlich zu machen, und bin dann bereit, Sie zu begleiten.«
Die Unbekannte hob das Glas an den Mund, ohne den Schleier zu lüften, setzte es unberührt wieder nieder und brach in Tränen aus.
»Ich weiß«, sagte sie unter lautem Schluchzen, »daß das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, wie eine Fieberfantasie klingt. Es ist mir schon von andern weniger freundlich als von Ihnen gesagt worden. Ich bin keine junge Frau, Sir, und man sagt, wenn das Leben zu Ende geht, daß der letzte kurze Rest, so wertlos er allen andern erscheinen mag, dem seinem Tode sich Nähernden teurer sei als alle seine früheren Jahre, obgleich sich die Erinnerung an alte, längst entschlafene Freunde und an neue, vielleicht an Kinder, ungeratene, undankbare Kinder, an sie knüpft. Ich muß mein Lebensziel in wenigen Jahren erreicht haben, gehe ihm gern entgegen und würde ohne Seufzen, ja mit Freuden in diesem Augenblick sterben, wenn das, was ich Ihnen zu sagen im Begriff bin, unwahr oder eingebildet wäre. Morgen früh wird der, von dem ich rede – ich weiß es, so inbrünstig ich wünsche, daß es anders sein möchte –, außer dem Bereich aller menschlichen Hilfe sein; und doch dürfen Sie ihn heute abend, obgleich er in Todesgefahr ist, nicht sehen, und Sie würden ihm auch nicht helfen können.«
»Ich gedenke Ihren Schmerz«, erwiderte unser Freund nach einem kurzen Schweigen, »durch keine Bemerkung über das, was Sie gesagt haben, zu vergrößern noch zudringlich einem Gegenstand genauer nachzuforschen, worüber Sie mich offenbar im dunkeln lassen wollen; doch Ihre Angaben sind so widersprechend, daß ich sie nicht zu vereinigen weiß und sie ein wenig unwahrscheinlich finden muß. Der Patient stirbt in dieser Nacht, und ich darf ihn nicht sehen zu einer Zeit, wo mein Beistand von Nutzen sein könnte. Sie glauben, daß mein Besuch morgen nutzlos sein wird, und begehren doch, daß ich den Patienten morgen sehen soll. Wenn er Ihnen wirklich so teuer ist, wie er es nach Ihren Worten und Tränen zu sein scheint, warum wollen Sie nicht, daß ein Versuch gemacht werden soll, ihn am Leben zu erhalten, bevor es zu spät ist?«
»Gott stehe mir bei!« rief die Unbekannte, bitterlich weinend, aus. »Wie kann ich hoffen, daß Fremde glauben werden, was mir selbst unglaublich erscheint! Sie wollen ihn also nicht sehen, Sir?« fügte sie, rasch aufstehend, hinzu.
»Ich sagte nicht, daß ich mich weigere«, versetzte der Arzt; »allein, lassen Sie sich erinnern, welch schreckliche Verantwortung auf Ihnen lastet, wenn Sie auf Ihrer begehrten unerklärlichen Verzögerung bestehen und der Patient stirbt.«
»Die Verantwortlichkeit wird allerdings auf irgend jemand schwer lasten«, sagte die Unbekannte mit Bitterkeit. »Die auf mir lastende bin ich bereit auf mich zu
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