18 Geisterstories
erstaunt: »Das ist ja ein Telegramm! ›Sieh Dich vor!‹, unterzeichnet ›H‹.«
Ich sagte ihm, daß auch ich es so höre.
Wir horchten und beobachteten dann noch eine Weile. Erklären konnte auch er sich die Sache nicht. Schließlich verließ er mich und ging wieder auf sein Zimmer, nicht ohne vorher noch weidlich über die Geschichte gelacht und sie für Unsinn erklärt zu haben.
Dann ging auch ich auf mein Zimmer und setzte mich an den Tisch, um noch über die Sache nachzudenken; zum Schlafen war ich doch zu aufgeregt.
Endlich erhob ich mich, ging zum Waschtisch, um mich auszukleiden, und sah, noch immer über das Telegramm nachdenkend, in den Spiegel.
Ich war starr! Auf dem Platz, den ich eben noch eingenommen hatte, saß ein Mann und schrieb!
Das Blut stockte mir in den Adern. Es war mir unmöglich, mich umzuwenden und der Erscheinung direkt ins Angesicht zu sehen. Meine Augen waren wie gebannt an das Bild im Spiegel!
Es war ein großer, schlanker Mann. Sein Gesicht war farblos, weiß wie Kalk, und unter den Augen sah ich große, dunkle Ringe. Ein ähnliches Gesicht hatte ich einst in der Morgue, der Pariser Leichenhalle, gesehen. Der grünliche Schatten unter den Augen jenes Toten hatte genau dieselbe Farbe wie die dunklen Ringe unter den Augen dieses Mannes.
Ich beobachtete seine Hand – sie malte ein großes ›S‹. Dann kam ein ›i‹, ein ›e‹ und ›h‹. Dann schrieb sie ein großes ›D‹ und so fort. – »Sieh Dich vor!‹ Ich wußte genau, wie der nächste Buchstabe lauten würde – es war ein ›H‹.
Der Mann stand auf. Von meiner Anwesenheit schien er nichts zu wissen. Er sah weder nach mir, noch wendete er überhaupt sein Gesicht. Lautlos ging er durch die offene Tür hinaus auf den Korridor.
Ich stand und sah in den Spiegel, nicht imstande, mich zu bewegen. Jeden Augenblick erwartete ich die Rückkehr der Erscheinung aus dem Dunkel des Korridors. Aber sie kam nicht zurück, und ich fand schließlich den Mut, an den Tisch zu treten, um zu sehen, was dort geschrieben stand. Wie groß aber war mein Erstaunen, als ich nicht ein einziges Wort fand.
Ich ging zur Tür, schloß sie leise und nahm Platz. Hatte ich geträumt? Was war eigentlich geschehen?
Wie lange ich in dieser Verfassung gesessen habe, weiß ich nicht; aber plötzlich hörte ich das lustige Zwitschern der Vögel aus dem nahen Garten zu mir dringen.
An Schlaf war bei meinem aufgeregten Zustand nicht zu denken. Mein Kopf glühte fieberhaft, ich ging deshalb an das Fenster, um die kühle Morgenluft zu atmen.
Eine Zeitlang sah ich hinunter in die Straßen, die um diese Zeit gänzlich vereinsamt lagen. Da, wie aus der Erde auftauchend, erschien auf dem Gehsteig drüben plötzlich ein Mann. Er verursachte nicht das geringste Geräusch; geisterhaft schien er über das Pflaster dahinzuschweben.
Als er sich meinem Fenster gegenüber befand, blieb er stehen. Er drehte mir anfangs den Rücken zu; plötzlich aber wandte er sich zu mir um und sah mir ins Gesicht.
Unsere Blicke trafen sich. Ein angstvoller Ausdruck war in seinen Zügen, und er zeigte mit dem Arm nach Osten.
Es war der Fremde, der mich in der Nacht besucht hatte!
Bestürzt von all diesem Geheimnisvollen lehnte ich mich weit aus dem Fenster und rief den Fremden, als er sich zum Gehen wandte, mit lauter Stimme an.
Ob er mich nicht hörte oder nicht hören wollte, – ich weiß es nicht. Jedenfalls beachtete er weder mein Rufen, noch blickte er sich um; ich bemerkte nur noch, daß er um die nächste Straßenecke verschwand.
So rasch ich konnte, lief ich die Treppe hinunter und auf die Straße, um ihm zu folgen. Ich erreichte die Ecke, um die er gegangen war, noch bevor er bei der nächsten Ecke angelangt sein konnte. Aber keine Spur mehr von ihm war zu sehen. Auch wenn er gelaufen wäre, hätte er mir nicht so schnell aus den Augen kommen
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