18 Geisterstories
verstricken; aber das Sprechen behagte ihm nicht. Als er bezahlt hatte, wandte er sich zum Gehen.
Es war nun für mich höchste Zeit, zu handeln. Ich berührte seinen Arm und sagte: »Entschuldigen Sie …«
Es war der schlechteste Gedanke, der mir kommen konnte; denn der Fremde durchschaute meine Absicht sofort. Mit einem Fluch warf er sich auf mich und packte mich blitzschnell bei der Kehle.
»Du Schuft, du willst mich fangen!« zischte er.
Er preßte seinen Daumen tief in meinen Hals und drückte mir so die Luft ab. Mir schwanden die Sinne.
Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem Hospitalzimmer. Man erzählte mir, der Fremde hätte mich beinahe getötet, aber zur rechten Zeit seien die Schutzleute erschienen und hätten mich befreit.
Vor dem Untersuchungsrichter bekannte der Gefangene, daß er der Mörder von Whitechapelhouse sei. Später wurde er zum Tode verurteilt.
Der Mörder hatte einen Bekannten in Louth, namens Anthony Usina. Er verlor einst gegen diesen im Spiel eine größere Summe. Durch den Verlust und durch reichlich genossenen Alkohol erregt, fing er mit ihm Händel an, die jedoch zu seinen Ungunsten ausfielen. Er schwor seinem Freunde Rache; und als Usina nach London ging, folgte er ihm.
Des Mörders Bruder, ein in Louth hochangesehener Mann, der seine Absicht erriet, bemühte sich vergebens, ihn zurückzuhalten. Er wollte nicht indirekt den Tod eines Menschen verschulden; und deshalb schickte er das Telegramm an Usina, um ihn zu warnen. Einige Stunden später erlag er plötzlich einem Schlaganfall.
Dieser plötzliche Tod ist meiner Ansicht nach die unmittelbare Ursache der Erscheinung und des eigentümlichen Tröpfelns gewesen. Die Gedanken des Mannes hatten sich unausgesetzt mit der Verhinderung des geplanten Verbrechens beschäftigt. Sein Tod aber machte es ihm unmöglich, dem Morde vorzubeugen. Der Körper war tot, der Geist jedoch lebte weiter und versuchte, aller irdischen Fesseln ledig, mich als den einzigen, der von dem Telegramm wußte, zu bewegen, den Ermordeten zu warnen.
Ich kam zu spät. Doch wenn ich auch nicht das unglückliche Opfer vor dem Tode bewahren konnte, so wurde ich doch in jener Nacht zum Werkzeug des Schicksals, das den Mörder ereilte, als er sich am sichersten fühlte.
Der geraubte Arm von
Vilhelm Bergsöe
Die ›Gespensternovellen‹ des dänischen Zoologen und Schriftstellers Vilhelm Bergsöe (1835-1911) erschienen in der Übersetzung Adolf Strodtmanns 1873 in Berlin, ein Jahr nach der dänischen Erstausgabe. Sie machten den Namen dieses in seiner Heimat vielgelesenen Autors auch in Deutschland bekannt. Eine Reihe seiner Erzählungen und Romane spielt in Italien, wo Bergsöe lange Zeit lebte. ›Der geraubte Arm‹ ist eine seiner besten Gespensternovellen, die sich durch eine spannende Handlung, den Reichtum an interessanten Charakteren aus dem Studentenmilieu und durch effektvoll wechseln de, abenteuerliche und schaurige Szenen auszeichnen.
——————————
Es war Weihnachtsabend. Draußen auf den Feldern lag der Schnee dick und dicht in sanften Wellenlinien über der Erde; er hing wie Silbertuch auf den schwarzen Dornhecken, von welchen dann und wann ein aus seiner Nachtruhe emporgescheuchter Vogel aufflog, – emporgescheucht durch das Schellengeläut eines Schlittens, der sich in rascher Fahrt dem Pfarrhause näherte, dessen Fenster am Ende der Dorfstraße blinkten.
Im Pfarrhause war alles voll stiller Erwartung. Die Jugend war in der großen Gartenstube versammelt, man hatte um den Weihnachtsbaum getanzt, man hatte ihn geplündert und die Lichter ausgelöscht, man hatte Vetter Jakobs sinnreichen Einfall bewundert, einen
Weitere Kostenlose Bücher