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18 Geisterstories

18 Geisterstories

Titel: 18 Geisterstories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Kluge
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Kie­fern­zweig statt des Mi­stel­zwei­ges un­ter der De­cke an­zu­brin­gen, und man wür­de schon längst zu Tisch ge­gan­gen sein, wenn sich nicht das selt­sa­me, aber un­be­streit­ba­re Fak­tum er­eig­net hät­te, daß Dok­tor Siem­sen noch nicht ein­ge­trof­fen war. Das war mehr als selt­sam, – denn im Pfarr­hau­se ge­hör­te Dok­tor Siem­sen mit zum Weih­nachts­abend und war ein eben­so not­wen­di­ger Teil des­sel­ben wie der Weih­nachts­baum, die Pfef­fer­nüs­se, Ap­fel­ku­chen und der Punsch. Un­zäh­lig wa­ren da­her die Ver­mu­tun­gen über den Grund sei­nes Aus­blei­bens, in de­nen man sich er­ging, und Vet­ter Ja­kob stand schon im Be­griff, einen län­ge­ren Er­klä­rungs­vor­trag zu hal­ten, als man drau­ßen auf dem Ho­fe das­sel­be Schel­len­ge­läu­te ver­nahm, wel­ches die ein­zel­nen Vö­gel an der Land­stra­ße auf­ge­scheucht hat­te.
    Es war ein pos­sier­li­ches Fuhr­werk, das in die­sem Au­gen­bli­cke auf dem Pfarr­hof ein­schwenk­te und vor der ehr­wür­di­gen al­ten Stein­trep­pe still hielt.
    Zu­erst ein gel­ber nor­we­gi­scher Kiep­per, der miß­ver­gnügt den Kopf mit dem Schel­len­ge­läut und der ro­ten Hör­n­er­zier schüt­tel­te; so­dann et­was, das wie ein hoch­leh­ni­ger, alt­mo­di­scher Ses­sel aus­sah, oben mit ei­nem le­der­nen Kutsch­ver­deck und un­ten mit ei­nem rie­si­gen Fuß­sack, – das al­les auf ein Schlit­ten­ge­stell ge­setzt, wel­ches zum Über­flüs­se noch ei­ne Art von Komp­toir­bock trug, der als Sitz für den Kut­scher be­stimmt zu sein schi­en, wenn ein sol­cher von­nö­ten war.
    Für die Be­woh­ner des Pfarr­hau­ses schi­en je­doch dies Ge­fährt nichts Neu­es oder Un­ge­wöhn­li­ches zu sein. Der Pfar­rer knöpf­te selbst den Fuß­sack auf, leg­te das Ver­deck zu­rück und zog un­ter herz­li­chen Will­komms­grü­ßen einen klei­nen Mann von dem hoch­leh­ni­gen Ses­sel her­ab, wäh­rend die Ju­gend auf der Stein­trep­pe mit lau­ter Stim­me den Re­frain des al­ten Lie­des in­to­nier­te: »Hur­ra, der Herr Dok­tor ist da!«
    Es war wirk­lich Dok­tor Siem­sen, der lang er­war­te­te Gast, wel­cher sich jetzt der Ver­samm­lung als einen klei­nen be­hä­bi­gen, rot­bä­cki­gen Mann mit ei­nem klu­gen Ge­sicht und ei­nem ehr­wür­di­gen schwar­zen Samt­käpp­chen zu er­ken­nen gab, wohl­ge­merkt nach­dem er sich auf der Vor­die­le der ver­schie­de­nen Um­hül­lun­gen von See­hunds­fell-Müt­ze, Schafs­pelz und Pelz­stie­feln ent­le­digt hat­te, die ihm auf den ers­ten Blick das Aus­se­hen ei­nes Es­ki­mos oder Nord­pol­fah­rers ver­lie­hen hat­ten. Es war leicht zu se­hen, daß Dok­tor Siem­sen ein al­ter Be­kann­ter des Hau­ses war, und daß er we­nigs­tens heu­te abend nicht we­gen ei­nes Krank­heits- oder Ster­be­fal­les her­kam, so um­ju­bel­ten ihn die Kin­der, wäh­rend sie ihn im Tri­umph in das Spei­se­zim­mer zo­gen, wo er un­ter ei­ner wohl­ge­setz­ten Re­de Vet­ter Ja­kobs am Haupten­de des Ti­sches ne­ben dem Pfar­rer Platz neh­men muß­te.
    Die Mahl­zeit war vor­über, Vet­ter Ja­kob hat­te mehr­mals Zeit ge­fun­den, die Be­deu­tung des Kie­fern­zwei­ges zu er­klä­ren und von sei­ner Rei­se nach Eng­land zu er­zäh­len, Dok­tor Siem­sen hat­te prak­tisch be­wie­sen, daß der­sel­be sich auch wirk­lich wie der bes­te Mi­stel­zweig be­nut­zen ließ, als der Pfar­rer plötz­lich frag­te: »Nun, Siem­sen, was ge­ben Sie uns denn am heu­ti­gen Weih­nachts­abend zum Bes­ten? Ha­ben Sie die Ge­schich­te mit­ge­bracht?«
    »Ja, die Ge­schich­te, die Ge­schich­te, liebs­ter Dok­tor Siem­sen!« schri­en die Kin­der durch­ein­an­der. »Sie müs­sen uns Ih­re Ge­schich­te er­zäh­len!«
    »Die Ge­schich­te?« wie­der­hol­te Dok­tor Siem­sen mit so ver­wun­der­ter Mie­ne, als sei die­se Zu­mu­tung et­was ganz Neu­es für ihn.
    »Ja­wohl, ma­chen Sie kein so un­schul­di­ges Ge­sicht«, sag­te der Pfar­rer. »Seit fünf­zehn Jah­ren ha­ben Sie uns je­den Weih­nachts­abend ei­ne Ge­schich­te er­zählt, da müß te es doch wun­der­lich zu­ge­hen, wenn Sie heut abend kei­ne in pet­to hät­ten.«
    »Man sagt, Sie er­sän­nen die­sel­ben, wenn Sie auf die

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