18 Geisterstories
Kiefernzweig statt des Mistelzweiges unter der Decke anzubringen, und man würde schon längst zu Tisch gegangen sein, wenn sich nicht das seltsame, aber unbestreitbare Faktum ereignet hätte, daß Doktor Siemsen noch nicht eingetroffen war. Das war mehr als seltsam, – denn im Pfarrhause gehörte Doktor Siemsen mit zum Weihnachtsabend und war ein ebenso notwendiger Teil desselben wie der Weihnachtsbaum, die Pfeffernüsse, Apfelkuchen und der Punsch. Unzählig waren daher die Vermutungen über den Grund seines Ausbleibens, in denen man sich erging, und Vetter Jakob stand schon im Begriff, einen längeren Erklärungsvortrag zu halten, als man draußen auf dem Hofe dasselbe Schellengeläute vernahm, welches die einzelnen Vögel an der Landstraße aufgescheucht hatte.
Es war ein possierliches Fuhrwerk, das in diesem Augenblicke auf dem Pfarrhof einschwenkte und vor der ehrwürdigen alten Steintreppe still hielt.
Zuerst ein gelber norwegischer Kiepper, der mißvergnügt den Kopf mit dem Schellengeläut und der roten Hörnerzier schüttelte; sodann etwas, das wie ein hochlehniger, altmodischer Sessel aussah, oben mit einem ledernen Kutschverdeck und unten mit einem riesigen Fußsack, – das alles auf ein Schlittengestell gesetzt, welches zum Überflüsse noch eine Art von Komptoirbock trug, der als Sitz für den Kutscher bestimmt zu sein schien, wenn ein solcher vonnöten war.
Für die Bewohner des Pfarrhauses schien jedoch dies Gefährt nichts Neues oder Ungewöhnliches zu sein. Der Pfarrer knöpfte selbst den Fußsack auf, legte das Verdeck zurück und zog unter herzlichen Willkommsgrüßen einen kleinen Mann von dem hochlehnigen Sessel herab, während die Jugend auf der Steintreppe mit lauter Stimme den Refrain des alten Liedes intonierte: »Hurra, der Herr Doktor ist da!«
Es war wirklich Doktor Siemsen, der lang erwartete Gast, welcher sich jetzt der Versammlung als einen kleinen behäbigen, rotbäckigen Mann mit einem klugen Gesicht und einem ehrwürdigen schwarzen Samtkäppchen zu erkennen gab, wohlgemerkt nachdem er sich auf der Vordiele der verschiedenen Umhüllungen von Seehundsfell-Mütze, Schafspelz und Pelzstiefeln entledigt hatte, die ihm auf den ersten Blick das Aussehen eines Eskimos oder Nordpolfahrers verliehen hatten. Es war leicht zu sehen, daß Doktor Siemsen ein alter Bekannter des Hauses war, und daß er wenigstens heute abend nicht wegen eines Krankheits- oder Sterbefalles herkam, so umjubelten ihn die Kinder, während sie ihn im Triumph in das Speisezimmer zogen, wo er unter einer wohlgesetzten Rede Vetter Jakobs am Hauptende des Tisches neben dem Pfarrer Platz nehmen mußte.
Die Mahlzeit war vorüber, Vetter Jakob hatte mehrmals Zeit gefunden, die Bedeutung des Kiefernzweiges zu erklären und von seiner Reise nach England zu erzählen, Doktor Siemsen hatte praktisch bewiesen, daß derselbe sich auch wirklich wie der beste Mistelzweig benutzen ließ, als der Pfarrer plötzlich fragte: »Nun, Siemsen, was geben Sie uns denn am heutigen Weihnachtsabend zum Besten? Haben Sie die Geschichte mitgebracht?«
»Ja, die Geschichte, die Geschichte, liebster Doktor Siemsen!« schrien die Kinder durcheinander. »Sie müssen uns Ihre Geschichte erzählen!«
»Die Geschichte?« wiederholte Doktor Siemsen mit so verwunderter Miene, als sei diese Zumutung etwas ganz Neues für ihn.
»Jawohl, machen Sie kein so unschuldiges Gesicht«, sagte der Pfarrer. »Seit fünfzehn Jahren haben Sie uns jeden Weihnachtsabend eine Geschichte erzählt, da müß te es doch wunderlich zugehen, wenn Sie heut abend keine in petto hätten.«
»Man sagt, Sie ersännen dieselben, wenn Sie auf die
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