18 Geisterstories
können.
Nach Hause zu gehn und zu ruhen, hatte keinen Sinn. Unwillkürlich schlug ich die Richtung nach meinem Büro ein.
Als ich dort ankam, war natürlich jeder erstaunt, mich zu sehen. Ich erklärte, ich sei nervös und könne nicht schlafen, suchte aus den Telegrammfächern die Abschrift des Telegramms heraus, das mit ›H‹ gezeichnet war, und fand auch die Adresse. Ich notierte sie mir in der Absicht, den Adressaten aufzusuchen. Obgleich ich mir sagte, daß es aufdringlich und unberechtigt von mir sein würde, dem Empfänger des Telegramms irgend welche Fragen zu stellen, wollte ich hin.
Ich ging dann schnell durch die Straßen, in der etwas bangen Erwartung, den Mann, der mich zweimal in wenigen Stunden wie ein Gespenst genarrt hatte, wiederzusehen.
Vor dem bezeichneten Hause stieß ich auf eine große Menschenmenge. Ich versuchte mich durchzudrängen, wurde aber angehalten und mit Fragen bestürmt; man hielt mich für einen Detektiv.
Erst nach meiner gegenteiligen Versicherung ließ man mich los, und es gelang mir, durch den Haufen der aufgeregten Leute hindurchzukommen. Ich fragte einen an der Tür postierten Schutzmann, den ich kannte, was denn passiert sei.
»Ein schrecklicher Mord ist in diesem Hause verübt worden«, antwortete er. »Wenn Sie wollen, können Sie hineingehen.«
Ich ging hinein und wurde von einem zweiten Schutzmann in ein kleines Zimmer geführt.
Es war ein schrecklicher Anblick, der sich mir bot. Der Körper eines Mannes lag auf dem Boden in einer Blutlache. Blut überall – und neben dem Körper eine Axt.
Ich mußte mich mit Gewalt abwenden; etwas in den Zügen des Mannes aber zog meine Blicke immer wieder an. Dieses Gesicht hatte ich schon einmal gesehen; doch konnte ich mir über die Persönlichkeit, der es gehörte, nicht klar werden.
Der Beamte durchsuchte die Taschen des Toten nach etwaigen Papieren. In seiner Westentasche fand er ein Telegramm. Er entfaltete es und las: »Sieh Dich vor! H.«
Es war das Telegramm, das ich zuletzt expediert hatte.
Ganz verstört von dem Erlebten ging ich hinaus, nahm eine Droschke und fuhr nach dem Amt, wo ich die Geschichte einem Kollegen erzählte. Der sah mich nur zweiflerisch an; er schien zu glauben, mein Gehirn habe wohl etwas gelitten.
Sechs Monate waren vergangen, und der Mörder war noch nicht ergriffen. Alle Recherchen der Polizei waren ergebnislos geblieben. Es gab auch nicht einen einzigen Anhaltspunkt, wo die Ermittlungen hätten einsetzen können.
Aber die Erscheinung, die ich in jener Nacht gehabt hatte, kam mir nicht aus dem Sinn.
Eines Abends, als ich wie gewöhnlich an meinem Schalter saß, betrat ein großer, kräftig gebauter Mann das Büro, ging zu dem Pult am Fenster, nahm ein Telegrammformular und begann zu schreiben. Als es fertig war, kam er auf meinen Schalter zu, um das Telegramm bei mir aufzugeben.
Ich sah ihm ins Gesicht; es war die Erscheinung aus jener Nacht! Und doch, dieser Mann sah anders aus. Sein Gesicht war fleischiger, seine Stirn niedriger; es hatte einen Ausdruck des Brutalen, Rohen. Und auch die dunklen Ringe unter den Augen fehlten.
So ruhig wie möglich nahm ich das Telegramm entgegen. Grad als ich die Worte zählte, kam einer meiner Mitarbeiter herein. Ich ging zu ihm und sagte zu ihm, so leise es meine Erregung zuließ, dieser Mann sei der Mörder von Whitechapel, wir müßten ihn verhaften lassen.
Der Mann sah uns beobachtend von der Seite an. Sobald wir dies bemerkten, hielten wir mit Sprechen inne. Ich ging zum Schalter zurück. Während ich so langsam wie möglich die Sendung fertig machte, verließ mein Kollege das Büro, um einen Schutzmann herbeizuholen.
Um Zeit zu gewinnen, versuchte ich meinen Partner in eine Unterhaltung zu
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