18 Geisterstories
Praxis fahren«, schaltete Jakob ein. »Sie sind ja der größ te Märchendichter der Gegend. Sie müssen uns wirklich eine Geschichte erzählen; denn als ich in England war …«
»Sei’s denn!« unterbrach ihn Doktor Siemsen mit einem feinen ironischen Lächeln, das Vetter Jakob nicht bemerkte. »Was wünschen Sie?«
»Eine rechte Weihnachtsgeschichte«, rief Vetter Jakob, »etwas Romantisches, etwas Dämonisches á la Dickens.«
»Ja, eine Spukgeschichte!« stimmte der älteste Pfarrersknabe ein. »Dann blasen wir die Lichter aus und schrauben die Lampe nieder, und dann schreit Karoline, wenn das Gespenst kommt.«
»Wie abscheulich du bist, Fritz!« schmollte Karoline und ward blutrot. »Das hab’ ich nur einmal getan, und das sind über fünf Jahre her. Jetzt will ich gerade eine Spukgeschichte haben.«
»Ach nein, nein, bester Doktor Siemsen!« rief eine der Freundinnen aus der Stadt. »Erzählen Sie lieber etwas Spaßhaftes aus Ihrer Jugendzeit, etwas aus dem Studentenleben, das verstehen Sie so prächtig.«
»Lassen Sie ein wenig Moral darin enthalten sein«, bemerkte der Pfarrer, welcher eifrig damit beschäftigt war, eine Pfeife für seinen alten Freund zu stopfen und ein Glas Punsch zu bereiten, das er auf den kleinen Tisch neben dem Lehnsessel stellte.
»Wohlan«, sagte der Doktor mit einem schelmischen Lächeln, »ich will versuchen, das Verlangen aller Teile zu befriedigen, obschon mir das schwer genug fallen mag. Ich sprach unterwegs bei Peter Nielsen vor, welcher vergangenes Jahr überfahren wurde und den rechten Arm brach. Das erinnerte mich an eine kleine Geschichte aus meiner ersten Studentenzeit, und auf der Fahrt hierher hab’ ich über die Form nachgedacht, welche man ihr geben könnte. Wollen Sie sie hören?«
Der Pfarrer nickte, die Kinder hatten schon ihre Stühle näher zu dem jovialen Doktor herangerückt, welcher, nachdem er von dem Punsch genippt und seine Pfeife angezündet, folgendermaßen begann:
»Es war in meinen jungen Tagen, das heißt«, fügte Doktor Siemsen lächelnd hinzu, »ich zählte achtzehn bis neunzehn Jahre, als Sölling mein Repetent in der Anatomie war. Dieser Sölling war ein trefflicher Bursche, stets voller Spaße und scherzhafter Einfälle und immer gleich lustig aufgelegt, ob er nun am Seziertische oder bei einer Bowle im alten Akademikum saß. Er hatte nur einen Fehler, wenn man das überhaupt einen Fehler nennen kann, nämlich seinen übertriebenen Anspruch auf Pünktlichkeit. Kam man nur einige Minuten zu spät, gleich brummte Sölling und wurde an dem Abend nicht wieder freundlich gestimmt; er selbst kam niemals zu spät, wenigstens nicht in unserem Kreise.
An einem Mittwochabend sollte die kleine Schar sich, wie gewöhnlich, präzise um sieben Uhr bei mir in der Regenz { * } versammeln. Ich hatte zu diesem Zwecke die gewöhnlichen großartigen Vorbereitungen getroffen; ich hatte ein paar Stühle zu den meinigen geliehen; ich hatte alle meine Pfeifen gestopft und hatte Hans dazu bewogen, das Frühstücksgeschirr vom Sofa zu entfernen, wohin er es regelmäßig stellte, statt es auf den Korridor hinauszutragen. Allmählich versammelte sich die Gesellschaft, die Uhr schlug sieben, aber zu unserer großen Verwunderung sahen und hörten wir nichts von Sölling.
Die Uhr wies zwei, drei, ja fünf Minuten nach sieben, ehe wir Sölling die Treppe heraufkommen und in gewohnter Weise mit kurzen Schlägen an die Tür klopfen hörten. Als er eintrat, sah er so ärgerlich und gleichzeitig so verstört aus, daß ich unwillkürlich ausrief: »Was ist Ihnen, Sölling? Man hat Sie doch nicht bestohlen?«
»Allerdings hat man das«, erwiderte Sölling verdrießlich; »und es ist kein
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