18 Geisterstories
nannte, fast alle Fakultäten durchgemacht und konnte Zeugnisse vorlegen, daß er nahe daran gewesen war, nicht nur ein, sondern drei ganze Examina zu bestehen.
Er hatte als Theologe begonnen, aber die Erklärung des Erbschaftsverhältnisses zwischen Jakob und Esau hatte ihn zur Jurisprudenz hingeführt. Als Jurist war er durch einen interessanten Giftmischerfall zu der Erkenntnis gelangt, daß das medizinische Studium ein höchst notwendiges Nebenfach sei, das keinesfalls vernachlässigt werden dürfe, und er hatte sich deshalb mit solchem Eifer auf dasselbe geworfen, daß er das Jus vergessen hatte und der Erwartung leben durfte, mit vierzig Jahren sein Examen zu bestehen und im gesetzten Alter eines Fünfzigers Praxis zu bekommen.
Niels Daae nahm die Sache, welche wir diskutierten, sehr ernsthaft. »Jeder Topf«, sagte er, »hat zwei Henkel, jede Wurst zwei Zipfel, jede Sache zwei Seiten, ausgenommen die vorliegende, welche drei hat. (Beifall.) Vom juristischen Standpunkte betrachtet, fällt sie unzweifelhaft unter die Kategorie Diebstahl, oder vielmehr Einbruch, oder vielmehr noch richtiger Einbruchsdiebstahl. Indes kann die Sache eine Kollision von Begriffen und dadurch eine Begriffsverwirrung hervorrufen, was uns zur medizinischen Seite der Sache hinführt, welche deutlich ergibt, daß der Dieb in geistig unzurechnungsfähigem Zustande gehandelt hat, sintemal er nur Arme stahl, wo er ebensogut ganze Skelette hätte nehmen können. Ist er also von juridischem Standpunkte wegen Diebstahls oder zum mindesten wegen un gesetzlicher Aneignung fremden Eigentums zu verurteilen, so muß ich ihn von medizinischem Standpunkte aus freisprechen, weil er in unzurechnungsfähigen Zustande war. Hier geraten also zwei Fakultäten, rein fachmäßig betrachtet, in Streit miteinander, und das Recht ist unentschieden. – Aber jetzt«, fuhr Niels Daae fort, »vermittle ich die Streitsache vom theologischen Standpunkt zu einer höheren Einheit, welche auf das Universelle hinweist. Die Vorsehung hat nämlich in Gestalt eines Gönners in Jütland, dessen Kindern ich die Früchte der Weisheit eingepfropft habe, mir zwei fette Gänse und zwei veritable Enten geschickt, welche heut abend bei Lars Mathiesen verspeist werden sollen, wohin ich die verehrliche Gesellschaft einlade, indem ich in dem Verschwinden der Arme nur die allweise Leitung der Vorsehung erblicken kann, welche in ihrer unbegreiflichen Weisheit sich der Weisheit widersetzt, die sonst von den Lippen meines würdigen Freundes Sölling geflossen sein würde.«
Daaes etwas konfuse Rede wurde mit Gelächter und Beifallrufen aufgenommen, und nur Sölling erhob ein paar schwache Einwendungen, welche indessen bald in der Flut von Lustigkeit und scherzhaften Einfällen erstickt wurden, die Niels Daaes plötzliches Erscheinen hervorgerufen hatte.
Ich habe oft Gelegenheit gehabt, die Beobachtung zu machen, daß improvisierte Gelage die heitersten sind, und so war es auch an jenem Abend. Niels Daae regalier te uns mit den Enten und mit seinen besten Einfällen, Sölling sang seine besten Lieder, der joviale Lars Mathiesen erzählte seine besten Geschichten, und das Bankett war im schönsten Gange, als wir draußen auf der Straße Geschrei und Rufen verschiedener Stimmen vernahmen, dann ein dumpfes Gekrach, begleitet vom Klirren zerbrochener Scheiben, mit ein paar gellenden Wehlauten untermischt.
»Es ist ein Unglück geschehen!« rief Sölling, welcher im Handumdrehen draußen vor der Türe war, – und es verhielt sich wirklich so. Als wir auf Alleegaden hinaus kamen, sahen wir, daß ein Paar
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