18 Geisterstories
gedankenvoll an den Tisch. Er konnte wohl bemerken, wie aufgeregt Hannchen war und in welcher Bewegung sie sich befand. Setzen Sie sich zu mir, Sie herzlichstes Kind, sagte er zu ihr, so gut ist es mir lange nicht geworden. Sie wußte nicht, was sie antworten sollte, und diese kindliche Verlegenheit machte ihre Erscheinung noch lieblicher. Theodor rückte ihr näher und faßte ihre Hand mit der seinigen. Sie zittern ja, Hannchen, sagte er dann. – Es ist kaltes Regenwetter, antwortete sie und schon tief in der Nacht. – Jawohl, und Ihnen graut wohl manchmal hier in der Einsamkeit, fuhr er fort: geben Sie mir das andere liebe Händchen auch. So hielt er kriegslistig die beiden Hände des Mädchens in seiner starken linken Hand, und indem sie ihn mit fragenden Blicken ansah, griff er nach dem Blatte, das so schön verwahrt war, entfaltete es und las. – O Theodor! sagte das schöne Kind weinend, das war sehr, sehr unrecht von Ihnen. Sie ging weit von ihm weg und setzte sich in den fernsten Winkel, das Köpfchen mit ihren Händen bedeckend. Aber wie ward ihm, als er jetzt eins seiner Gedichte las, die er vor einem Jah re im Frühling einmal dem unschuldigen Mädchen in einer traulichen Stunde gegeben hatte. Er sah es wohl, wie oft das Blatt war gelesen worden, einige Buchstaben waren halb verlöscht, vielleicht von Tränen, vielleicht auch weggeküßt, und er selbst ließ jetzt, von plötzlicher Rührung gewaltsam ergriffen, eine große Träne auf das Blatt fallen.
Er riß die Uhr heraus und sah, daß er nun, sein wunderliches Versprechen zu erfüllen, eilen müsse. Er sprang auf, ging zu Hannchen, gab das Blatt ihrer zitternden Hand zurück und sagte dann mit der zärtlichsten Stimme: Bitte! bitte! nicht böse. Sie stand auf und sah ihn mit weinendem Auge durchdringend an. Er konnte sich nicht bezwingen und nahm sie in die Arme und drückte einen herzlichen Kuß auf ihre Lippen, dann, ohne ein Wort zu sagen, eilte er hinaus und rannte auf dem Fußsteige fort, um zu rechter Zeit vor der alten Pforte der Klausenburg anzulangen.
Indem er davor stand, hörte er unten im tiefen Tale die Glocke des Dorfes zwölf schlagen. Er zog gedankenlos an dem Eisendrahte, der wie verhöhnend aus alter Zeit an der moosbewachsenen Mauer niederhing. Aber er kam auf unerwartete Weise zum Bewußtsein, denn ein sonderbarer Ton erklang laut gellend im Innern, das Getön hallte noch in die Ferne hinein, aus dieser erwachte eine zweite Glocke, und nach dieser noch entfernter eine dritte, alle so seltsam geisterhaft, daß ihn ein Schauer erfaßte.
Jetzt öffnete sich das Tor, er trat hinein: ein altes gebücktes Mütterchen stand mit einer Laterne da, er schritt in den Hof, und das Tor ward hinter ihm wieder verschlossen.
– Theodor kam aber am folgenden Tage nicht auf das Schloß zurück. Es schien, als wolle er alle Verbindung mit seiner bejahrten Verwandten, der freundlichen Baronesse, ganz aufgeben, denn er ließ sich dort in mehreren Wochen nicht erblicken. Dagegen fiel ganz unerwartet eine große Veränderung mit Sidonie vor. Sie hatte, wie man glaubte, von Theodor schon am folgenden Morgen ein großes Briefpaket erhalten. Sie erbrach es in Gegenwart der übrigen Gäste und war schon nach dem ersten flüchtigen Anblick der Blätter außer aller Fassung. Dies mußte um so mehr auffallen, da sie sonst in allen Lagen des Lebens einen unerschütterlichen Gleichmut bewiesen hatte. Sie war jetzt so erschüttert, daß sie ohne allen Vorwand die Gesellschaft verließ und sich in ihrem Zimmer verschloß. Die Tante war so neugierig, wie sie noch nie gewesen war, um zu wissen, was diese außerordentliche Veränderung der Nichte habe verursachen können. Blinden war gleichgültig und Blomberg, welcher
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