18 Geisterstories
tischler mit seinen beiden Töchtern durch die Gartenpfor te zu seinem Nachbarn. Ich verzichte darauf, Adrians russischen Kaftan und die europäischen Kleider Akuljas und Darjas ausführlich zu beschreiben. Trotzdem halte ich die Bemerkung nicht für überflüssig, daß beide Damen gelbe Hüte und rote Schuhe trugen, wie immer bei feierlichen Gelegenheiten.
In den engen Zimmern der Schuhmacherwohnung drängten sich die Gäste; deutsche Handwerker mit ihren Frauen und ihren Gesellen. Von den Einheimischen war nur ein Este namens Jurko zugegen, der es trotz seiner untergeordneten Stellung – er war städtischer Straßenaufseher – verstanden hatte, sich die Gunst des Gastgebers zu erwerben. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er seinen Dienst brav und gewissenhaft erfüllt. Der große Brand von 1812, der Moskau, die erste Reichshauptstadt, zum größten Teil in Schutt und Asche verwandelt hatte, vernichtete auch sein gelb angemaltes Wächterhäuschen. Aber nachdem die Feinde verjagt worden waren, hatte man gleich ein neues, diesmal grau gestrichenes und mit weißen dorischen Säulchen verziertes Häuschen errichtet, und Jurko patrouillierte wie einst mit Hellebarde und im Harnisch aus grobem Bauerntuch in seinem Bezirk. Die meisten Deutschen, die in der Nähe des Nikitskij-Tores wohnten, kannten ihn recht gut, denn nicht selten mußten sie die Nacht vom Sonntag auf den Montag in seiner Bude verbringen. Adrian stellte sich ihm sogleich vor als einem Menschen, den man früher oder später würde brauchen können, und als man sich zu Tisch setzte, nahmen sie nebeneinander Platz.
Die Gastgeber und ihre Tochter, das siebzehnjährige Lottchen, ermunterten sie zuzulangen und halfen der Köchin beim Bedienen. Jurko aß für vier, und Adrian hielt eifrig mit; nur seine Töchter zierten sich. Die deutsch geführten Gespräche wurden von Stunde zu Stunde lebhafter. Plötzlich meldete sich der Hausherr zu Wort. Er öffnete eine versiegelte Flasche und rief mit lauter Stimme auf russisch: »Auf das Wohl meiner lieben Luise!« Das etwas champagnerähnliche Getränk schäumte in den Gläsern. Herr Schulze küßte zärtlich das frische Gesicht seiner vierzigjährigen Gefährtin, und die Gäste tranken lärmend auf die Gesundheit der braven Luise.
»Auf das Wohl meiner lieben Gäste!« ließ sich der Hausherr abermals hören und öffnete die nächste Flasche. Die Anwesen den dankten und leerten zum zweitenmal ihre Gläser. Nun folgte ein Trinkspruch dem anderen. Man trank auf die Gesundheit jedes einzelnen, brachte ein Hoch auf Moskau aus, gedachte eines ganzen Dutzends deutscher Städte und Städtchen, stieß auf die Zünfte im allgemeinen und im besonderen an und trank schließlich auf die Gesundheit der Meister und ihrer Gesellen.
Adrian trank tüchtig mit und war zu guter Letzt so in Stimmung, daß auch er ein scherzhaftes Hoch ausbrach te. Darauf erhob ein dicker Bäckermeister sein Glas und rief: »Auf das Wohl derer, für die wir arbeiten! Hoch lebe unsere Kundschaft!« Einmütig willigte man ein und begann sich nun gegenseitig zuzutrinken: der Schneider dem Schuster, der Schuster dem Schneider, der Bäckermeister diesen beiden, allesamt wiederum dem Bäcker und so fort. Auf dem Höhepunkt des fröhlichen Durcheinanders wandte sich plötzlich Jurko zu seinem Tischnachbarn und schrie aus voller Kehle: »Wie wär’s, Tischler, erheb dein Glas auf das Wohl deiner Toten!« Alle brachen in ein brüllendes Gelächter aus, aber der Sargtischler fühlte sich beleidigt und verzog sein Gesicht. Niemand hatte es bemerkt, man trank fröhlich weiter, und erst als zur Abendmesse geläutet wurde, erhoben sich die Gäste von ihren Plätzen.
Erst spät und
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