18 Geisterstories
gestrigen Begebenheiten zu erzählen.
»Du hast aber ganz schön verschlafen, Vater Adrian Prochorow«, sagte Aksinja und reichte ihm den Schlafrock. »Der Schneider von nebenan hat schon nach dir gefragt, und der Schutzmann war ebenfalls da und sagte, daß der Polizeiaufseher heute Namenstag habe; du aber beliebtest immer noch zu schlafen, und wir trauten uns nicht, dich zu wecken.«
»War jemand von der verstorbenen Trjuchina da?«
»Von wem? Von der verstorbenen Trjuchina? Seit wann ist sie denn tot?«
»Dumme Gans! Hast du mir nicht selber gestern bei den Vorbereitungen für ihre Beisetzung geholfen?«
»Was sagst du da, Vater? Bist du nicht ganz beisammen oder immer noch betrunken? Von welcher Beisetzung redest du denn? Du warst doch den ganzen Tag bei diesen Deutschen; bist betrunken nach Hause gekommen, in dein Bett geschlichen und erst aufgewacht, als es bereits längst zur Mittagsmesse geläutet hat.«
»Ist das denn wahr?« fragte der Vater.
»Aber natürlich«, versicherte die Magd.
»Nun, dann gib mir schnell den Tee und ruf die Töchter herein!«
Der schwarze Schleier von
Charles Dickens
In ihrer Gesamtheit liefern die ›Sketches by Boz‹ – unter diesem Pseudonym schrieb Charles Dickens (1812-1870) zwischen 1833 und 1836 in verschiedenen Londoner Zeitschriften Stimmungsbilder, Charakterskizzen und Kurzgeschichten – bunte Genrebilder vom damaligen Alltagsleben in und um London, ein Stück frühviktorianischer Wirklichkeit, das als authentisches Zeitbild von bleibendem Interesse ist. In diesen Skizzen ist auch die Erzählung ›Der schwarze Schleier‹ enthalten, in denen Dickens eine Fülle von Ele menten des zeitgenössischen Schauerromans verarbeitet hat – keine Gespenstergeschichte im traditionellen Sinne, aber eine Erzählung, die durch ihre gespenstische Atmosphäre auch heute noch zu fesseln vermag.
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An einem Winterabend gegen Ende des Jahres 1800, oder ein paar Jahre früher oder später, saß ein junger Arzt an einem behaglichen Feuer in seinem kleinen Wohnzimmer und hörte dem Wind zu, der große Regentropfen gegen das Fenster warf und im Schornstein traurig heulte und pfiff. Das Wetter war naßkalt, er war den ganzen Tag durch Kot und Wasser gewatet und ruhte jetzt bequem in Schlafrock und Pantoffeln aus, und er dachte sinnend, mehr als halb im Schlafe und weniger als halb wachend, an hundert und aber hundert Dinge mannigfacher Art. Er dachte zuerst, wie scharf der Wind doch bliese und welches Ungemach er selber im Kampf gegen Sturm und Regen ausstehen würde, wenn er nicht behaglich daheim säße; dann wieder, wie vergnügt er alljährlich am Weihnachtsabend im Kreise der Seinigen und teurer Freunde wäre; wie froh alle sein würden, ihn wiederzusehen, und wie glücklich es Rose machen würde, wenn er ihr sagen könnte, daß er endlich einen Patienten bekommen habe und mehrere zu bekommen hoffte, und sie dann heimführen könnte an seinen eigenen Herd, ihm die Einsamkeit zu versüßen und ihn zu neuen Anstrengungen anzuspornen. Möchte doch wissen, dachte er weiter, wann ich zu meinem ersten Patienten gerufen werde, oder ob mir das Schicksal bestimmt ist, überhaupt keine Praxis zu erlangen. Endlich dachte er abermals an Rose, schlief ein und träumte von ihr, bis es ihm war, als tönte wirklich ihre süße Stimme in seinen Ohren und als ruhte ihre kleine weiche Hand auf seiner Schulter.
Seine Schulter wurde in der Tat von einer Hand berührt, die jedoch weder klein noch weich war, denn sie gehörte einem derben rundköpfigen Buben an, den das Kirchspiel für einen Shilling die Woche und Beköstigung zum Austragen von Arzneien und Botschaften vermiete te. Da
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