18 Geisterstories
jedoch kein Bedarf an Arzneien und keine Notwendigkeit der Botschaftsübermittlung bestand, verbrachte er die arbeitsfreien Stunden – im Durchschnitt vierzehn pro Tag – mit dem Verzehr von Pfefferminzplätzchen, der Einnahme derber Kost und mit Schlafen.
»Eine Dame, Sir – eine Dame!« flüsterte er, den Schläfer schüttelnd.
»Was für eine Dame?« rief unser Freund, aus dem Schlafe auffahrend, nicht ganz gewiß, ob sein Traum eine bloße Täuschung wäre, und halb und halb erwartend, Rose selbst an seiner Seite stehen zu sehen. »Was für eine Dame? Wo?«
»Da, Sir«, erwiderte der Knabe, nach der Glastür hinweisend, die in das Behandlungszimmer führte, und sah aus, als wenn ihm die ungewöhnliche Erscheinung eines Patienten den größten Schrecken eingejagt hätte.
Der Wundarzt wendete sich nach der Tür um und erschrak selbst im ersten Augenblick. Die Dame war ungewöhnlich groß, in tiefe Trauer gekleidet und stand so dicht hinter der Tür, daß ihr Gesicht fast das Glas berührte. Sie hatte sich sorgfältig in einen schwarzen Mantel eingehüllt und ihr Antlitz durch einen dicken schwarzen Schal vermummt. Sie stand kerzengerade und vollkommen regungslos da. Der Wundarzt fühlte, daß sie die Augen auf ihn gerichtet hatte, allein sie gab nicht durch die leiseste Bewegung zu erkennen, daß sie es gesehen hatte, wie er sich nach ihr umdrehte.
»Wünschen Sie mich zu konsultieren?« fragte er ein wenig zögernd, indem er die Tür öffnete.
Die verschleierte Gestalt blieb regungslos auf derselben Stelle stehen und neigte nur bejahend den Kopf ein wenig.
»Ich bitte, treten Sie ein«, sagte der Arzt höflich.
Sie begann vorwärts zu schreiten, blieb aber sogleich wieder stehen und drehte den Kopf nach dem Knaben, zu dessen grenzenlosem Schrecken.
»Geh hinaus, Tom«, sagte der junge Mann; »zieh den Vorhang vor und verschließ die Tür.«
Tom tat, wie ihm befohlen war, und suchte darauf sogleich mit seinen großen Augen das Schlüsselloch.
Der Arzt schob einen Stuhl an den Kamin und winkte der geheimnisvollen Dame, Platz zu nehmen. Sie ging langsam zum Stuhl, und er bemerkte, daß sie durch Schmutz und Wasser gegangen sein mußte.
»Sie sind sehr naß«, sagte er.
»Ja«, erwiderte die Unbekannte mit leiser, kaum hörbarer Stimme.
»Und krank?« fragte der Arzt mitleidig, denn der Ton ih rer Stimme schien anzudeuten, daß sie heftige Schmerzen litt.
»Ja, ich bin krank«, war die Antwort, »sehr krank, doch nicht körperlich. Ich bin nicht meinetwegen zu Ihnen gekommen, Sir. Wenn ich leiblich krank wäre, so würde ich nicht allein bei einem solchen Unwetter und zu einer solchen Stunde ausgegangen sein; und lag ich auf dem Krankenlager, wie gern würde ich, Gott weiß es, in vierundzwanzig Stunden meinen Geist aufgeben. Es ist ein anderer, für den ich Hilfe suche, Sir. Vielleicht ist es – und ich glaube wohl, daß ich wahnsinnig bin –, ist es Wahnsinn von mir, Hilfe für ihn bei Ihnen zu suchen; allein der Gedanke hat mich keine Nacht in langen traurigen Stunden bei Wachen und Weinen verlassen wollen, und obwohl ich einsehe, daß kein menschlicher Beistand ihm helfen kann, stockt mir doch bei dem Gedanken, ihn hilflos zu lassen, das Blut in den Adern!«
Ihre ganze Gestalt erbebte bei diesen Worten, und zwar so, wie sie es schlechterdings nicht hätte erkünsteln können. Dem Arzt ging ihr offenbar tiefer Seelenschmerz zu Herzen. Er hatte noch nicht genug von dem Elend gesehen, durch dessen Anblick soviel erfahrene Männer seines Berufs gegen menschliche Leiden mehr oder minder abgestumpft werden. Er stand rasch auf und sagte: »Wenn sich der Patient, von dem Sie sprechen, in einem so hoffnungslosen Zustand befindet, wie Sie sagen, so ist kein Augenblick zu verlieren. Ich will sogleich
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