1801 - Die Herreach
nachzudenken. Manche nutzten diese Muße weidlich, und einer von ihnen war der in Pröoon geborene Szonkan
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Die Nachricht breitete sich durch die ganze Steppe aus, sie erreichte Städte und Dörfer und wurde wie ein Lauffeuer von Hütte zu Hütte getragen. Eine Herreach-Nomadin, eine Frau namens Bluus, war von Galanter aus mit nicht festgelegtem Ziel aufgebrochen. Sie war einfach geradeaus gelaufen, viele hundert oder tausend Schlafperioden lang. Nicht ein einziges Mal hatte sie die Richtung gewechselt, sie hatte von den Früchten der Steppe gelebt und in den unbelebten Landstrichen Gesellschaft durch das Gebet ersetzt. Am Ende war sie da angekommen, wo sie aufgebrochen war - nämlich in Galanter.
Es gab verschiedene Schlüsse, die man ziehen konnte. Der erste: Bluus hatte ganz offenbar zwischendurch die Richtung verloren und war im Kreis geirrt. Eigentlich undenkbar beim Orientierungssinn der Herreach. Der zweite: Bluus hatte gelogen, bewußt eine Unwahrheit erzählt. Aber wozu? Der dritte Schluß wurde zur favorisierten Version: Zahlreiche Herreach glaubten, daß auf eine nicht nachvollziehbare Weise Kummerog selbst in Bluus’ Schicksal eingegriffen hatte.
Der Cleros hielt sich mit Vermutungen sehr zurück. Aus dem Bethaus von Moond, vom obersten Künder des Kummerog, gab es keine Stellungnahme.
Zu diesem Zeitpunkt war praktisch niemandem bewußt, daß es noch einen vierten Schluß gab. Dieser wurde am Ende von besagtem Szonkar gezogen.
Szonkar war ein sehr kleingewachsener Herreach, er hatte kurze Beine und war keine zwei Meter groß.
Er besaß ein legendäres Nas-Organ, das die Hälfte des Gesichtes bedeckte. Plusterte Szonkar sein Nas-Organ auf, so war er nicht mehr imstande, geradeaus zu sehen.
Und das passierte häufig. - Er hatte die Angewohnheit, anderen Herreach seine Aufmerksamkeit deutlich mitzuteilen.
Als er die Nachricht hörte, setzte sich Szonkar an einen kleinen stinkenden Bach am Stadtrand. Er glaubte nicht daran, daß Kummerog an der endlosen Reise beteiligt war. Nein ... Es mußte eine andere Lösung geben.
Wie war es möglich, geradeaus zu gehen und ohne Richtungsänderung an den Ausgangspunkt zu gelangen? Gar nicht! Aber mußte es unbedingt eine Richtungsänderung nach links oder rechts sein?
Nach oben oder unten war schlecht möglich, dachte er zu Anfang. Niemand vermochte durch die Luft zu gehen.
Dann aber schaute er zum Horizont, an den sichtbaren Rand der Steppe. Er hatte sehr gute Augen.
Deshalb wußte er, daß von weit entfernten Objekten, von hohen Bäumen oder Bergen, das untere Ende stets abgeschnitten schien. Dieses Ende wurde dann erst sichtbar, wenn man sich dem Objekt näherte. Mit anderen Worten, die Enden lagen unter dem Horizont. Jeder Herreach wußte das, aber keiner hatte sich Gedanken gemacht, warum es so war. Es lag außerhalb der herrachischen Mentalität, Offensichtliches zu hinterfragen.
Szonkar begriff, daß schon in der bloßen Wanderung eine Richtungsänderung lag. Man wanderte unausweichlich stets nach unten. Die Nomadin Bluus war so lange nach unten gewandert, bis sie praktisch einen Kreis beschrieben hatte.
Er bückte sich, kratzte einen Haufen Lehm vom Rand des Flußbettes, formte einen runden Klumpen. Es war unmöglich und bestechend logisch zugleich. Szonkar schaute versonnen zum Horizont, und dann murmelte er: „Was, wenn die Welt eine Kugel wäre?"
Eine Kugel.
Der Gedanke war so verblüffend, daß er nicht wußte, wie er darauf kommen konnte.
Der Bach gluckerte leise und färbte sich unter gelöstem Dreck, den in der Stadt jemand hineingekippt hatte, stechend rot. Die ungewohnte Farbe ließ ihn wieder zur Besinnung kommen.
Szonkar zog sich in seine Hütte zurück. Er prüfte und verwarf, überlegte und kam stets auf dieselben Gesichtspunkte, immer wieder. In dieser Zeit vernachlässigte er die Feldarbeit, die am Rand der Stadt zu tun war, und lebte vom Fleiß seiner Freunde. Die anderen nahmen das mit Gleichmut hin, auch als er nach hundert Schlafperioden immer noch beharrlich Schweigen übte.
Bei Windstille führte er draußen hinter der Hüttenwand Experimente aus. Er legte eine erstaunliche Ausdauer an den Tag. Szonkar plazierte auf ebenem Boden eine flache Platte, schichtete eine Handvoll feinen Sand zu einem Haufenund zerteilte diesen mit einem Messer. Den linken Haufen schob er zur Seite. Den rechten, übriggebliebenen zerteilte er nochmals in der Mitte. So verfuhr er, bis die Haufen immer kleiner wurden. Am Ende blieb nichts
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