1801 - Die Herreach
visionäre Kraft besaßen, wurden zu den Jüngern Kummerogs zusammengefaßt. Sie allein erhielten Zugang zu speziellen Trainingslagern, die außerhalb der Großstädte entstanden. Dort wurden sie auf ein einziges Ziel hin trainiert: die Manifestation des Riesen zu beherrschen, sie mit ihren Kräften zum Leben zu erwecken.
Hundert Generationen brauchte es, bis sich ein mechanisiertes Vorgehen entwickelt hatte. Immer wieder hörte man, es bedürfe lediglich noch größerer Ergebenheit und noch tieferer Überzeugung, damit das große Ziel erreicht wurde.
Der Riese wurde nun nach Belieben geweckt. Gebete voller Leidenschaft schickten ihn mit tragischer Regelmäßigkeit vor, um an der Pforte des Tempels zu rütteln ... Ohne den geringsten Erfolg, es passierte nichts.
Aber es gab auch Herreach, die einen anderen Weg beschritten. Sie rückten der Sandsteinwand mit allem Gerät zu Leibe, das im aufkommenden Zeitalter der Technik produziert wurde. Zunächst mit Eisenspaten, mit Hacken und mit Hämmern; dann, als es nicht fruchten wollte, mit einem gefährlichen Sprengpulver, das die Bergwerksleute entwickelt hatten. Es gelang ihnen nicht, an der Tempelmauer auch nur einen Kratzer zu hinterlassen. Was ein ganzes Hüttenviertel der Herreach in Schutt und Asche gelegt hätte, verpuffte ohne jede Wirkung.
Der oberste Künder, der zu jener Zeit den Cleros führte, sah dem Treiben großmütig zu. Er fand keinen Anlaß, gegen die sinnentleerte Tätigkeit am Tempel einzuschreiten. Und er behielt recht. Binnen kurzer Zeit setzte sich die Überzeugung durch, daß dem Kummerog-Tempel auf mechanischtechnischem Weg nicht beizukommen wäre.
Also mußte es der geistige Pfad sein. Der Glaube war es, der den Weg zu Kummerog ebnete, unbedingtes Vertrauen in den Cleros und in den Riesen Schimbaa, der allein von Clerea erschaffen werden konnte.
Die Bindung an Kummerog wurde eher fester, als daß sie nachließ. Egal wohin man kam, sei es im Gebirge oder in der Steppe, im fernen Keerioch oder in einer anderen Stadt, überall beteten die Herreach zum Gott hinter Tempelmauern. Mindestens zwölf Personen gleich welchen Alters und gleich welcher Intelligenz setzten sich dann zu einer Runde zusammen. Sie berührten einander und fingen an, sich in Trance zu versetzen.
Wie würde es sein, wenn der Tempel ganz am Ende seine Pforte öffnete? Verwandelte sich die Welt in etwas anderes, Besseres?
Das Abbild ihres Gottes, das sie im Geist beschworen, konnte sehr verschieden sein. Kam ein geschulter Priester in die Runde, dann bestimmte er die Form. Solche Gebete verliefen meist in euphorischer Stimmung,, und wenn sie in die Realität zurückkehrten, dann geschah dies mit einem intensiven Gefühl von Entspannung und Freude.
Das Verfahren stammte aus der Hauptstadt. Es hatte den Vorteil, daß jeder damit arbeiten konnte. Es war einfach und leicht zu begreifen, Erfolge stellten sich zuverlässig schon nach kurzer Zeit ein.
Kummerog vermittelte Halt in einem bedeutungslosen, abgestumpften Dasein. Materieller Reichtum hatte keinen Wert, Herrschaft lohnte nicht, und leibliche Genüsse boten niemals auf Dauer Befriedigung. Die Krönung eines Lebens bestand höchstens darin, einmal den Tempel mit eigenen Augen zu sehen.
Durch das verbesserte Wegenetz rückte man zusammen. Der meiste Verkehr lief über die Johmspur zwischen Keerioch und Moond. Bald kamen weitere Wege hinzu, sternförmig in alle Richtungen. Anfangs handelte sich es nur um Trampelpfade, aber bald bewegten sich ganze Karrentrecks von Stadt zu Stadt. Sie wurden nicht von Herreach gezogen, sondern von eigens abgerichtetem Kurzhorn-Vieh.
Es dauerte nicht lange, bis man von regelrechtem Pilgerverkehr sprechen konnte. Auf dem gepflasterten Platz von Moond fanden sich oft Tausende von Herreach zusammen, zu jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit. Wenn sie Glück hatten, erlebten sie die Beschwörung des Riesen Schimbaa; sahen staunend an, wie ein zwölf Meter großer Herreach an der Pforte rüttelte. Alle hofften in solchen Augenblicken, dieses Mal möge ihr Gebet vom erlösenden Durchbruch gekrönt sein.
Aber niemals kam es so. Nicht durch das Gebet und nicht durch immer neues, immer schärferes Schneidewerkzeug.
Wenn es für die althergebrachte Lebensweise eine Gefahr gab, so erwuchs sie nicht aus der Technik, welche die neue Ära mit sich brachte. Bedrohlich wurde es lediglich dann, wenn eine neue Philosophie der alten entgegengestellt wurde. Den Herreach blieb sehr viel Zeit, um
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