1802 - Stiefkinder der Sonne
einzelne Individuum wenig Freiheit der Selbstentfaltung genoß, hieß wohl, vorschnell zu urteilen.
Und konnte er sicher sein, daß einige tausend Kilometer entfernt das Leben nicht ganz anders aussah?
Auch die Erde war vor Jahrtausenden ein Vielvölkerstaat gewesen, in dem die unterschiedlichsten Kulturkreise einander teils bis aufs Blut bekämpft hatten. Kriege waren wegen lächerlicher Nichtigkeiten geführt worden, aus Gründen individueller Weltanschauung oder nur, weil die Hautfarbe einiger anders gewesen war.
Unvorstellbar, eine solche Barbarei.
Vor Jahrtausenden ...
Da war es wieder, dieses unheimliche Prickeln im Nacken und unter der Kopfhaut, das irrsinnige Gefühl, selbst nur eine Marionette zu sein und nicht zu wissen, wer die Fäden zog.
Jahrtausende auf Trokan waren bisher gleichbedeutend mit wenigen Stunden Terranorm gewesen. Was hätte man vorgefunden, wäre das Zeitrafferfeld nur einen einzigen Standardtag später zusammengebrochen.
Gloom Bechner rechnete überschlägig. Ein einziger Tag, das hieß, daß auf Trokan mehr als zehntausend Jahre zusätzlich vergangen gewesen wären. Wahnsinn, wenn er bedachte, daß die Menschen vor zehntausend Jahren noch im Übergang von der Jungsteinzeit zur Bronzezeit gelebt hatten.
Zehntausend Jahre, das bedeutete nichts anderes, als daß schon morgen, am 13. Oktober, die Eingeborenen von Trokan technisch möglicherweise eine höhere Stufe als die Liga Freier Terraner erreicht gehabt hätten, daß sie in den Menschen die zurückgebliebenen Nachbarn gesehen hätten, denen man aus Mitleid oder anderen Gründen heraus helfend unter die Arme greifen mußte.
Oder wäre auf dem vierten Planeten ein haushoch überlegener Feind herangewachsen?
Ist es Zufall, daß das Zeitrafferfeld ausgerechnet heute zusammenbrach? Oder steckt mehr dahinter, eine Absicht der Ayindi?
Gloom Bechner schluckte schwer. Er sog die kalte Nachtluft schneller in seine Lungen. Das unter der Verdichtermaske dumpf klingende Geräusch der Atemzüge erschreckte ihn. Diesmal noch ergänzt um das leise Zischen aus den Patronen ausströmenden Sauerstoffs.
Sibyll schaute ihn forschend an. Sie wies darauf hin, daß die Trokaner niemals eine funktionierende Raumfahrt hätten aufbauen können. Wahrscheinlich wäre es ihren wagemutigen Pionieren ergangen wie Boris Siankow und Geo Sheremdoc an Bord der POLYAMID, die am 15. September 1222 NGZ in den chaotischen Verwirbelungen des entstehenden Temporalfeldes explodiert war.
Selbst wenn es ihnen gelungen wäre, die Barriere zu durchbrechen, ihr Zeitablauf hätte sich jäh verändert. Ähnlich wie in den ersten Jahren der Dritten Macht, als Überlappungsfronten aus dem Universum der Druuf ganze Welten entvölkert hatten. Die betroffenen Völker waren in das fremde Universum versetzt und dem dortigen Zeitablauf angepaßt worden, der „nur" 72.000 mal langsamer gewesen war als im Einsteinraum.
„Wenn ich die wissenschaftlichen Auswertungen der Holoaufnahmen richtig interpretiere, waren von der Oberfläche Trokans aus nie die Sonne oder gar Sterne zu sehen", gab der Kameramann zu bedenken. „Das heißt, daß die Eingeborenen wohl ein völlig egozentrisches Weltbild entwickelt und nie den Wunsch verspürt haben, ihre Welt zu verlassen. Sie sind der Mittelpunkt ihres eigenen Universums."
Gloom Bechner schaute hinauf zum Nachthimmel und den vertraut funkelnden Sternbildern. Er hatte den Eindruck, daß sie klarer zu sehen waren als von der Erde aus.
Im Osten wetterleuchtete es. Violettfarbene Helligkeit zerfaserte in den höheren Luftschichten und baute sich dennoch zu einer monströsen Wolke auf. Wie die Tentakel eines Kraken zuckten irrlichternde Erscheinungen dem Boden entgegen.
Zu hören war nichts, der auffrischende Wind trug bisher kein Donnergrollen heran. Immerhin betrug die Entfernung zu einer im Entstehen begriffenen Gewitterfront einige hundert Kilometer.
Zwei Sterne fielen herab.
Sie näherten sich schnell. Das waren Beiboote, keine Forschungsraumer.
„Alle Geräte aus! Sofort!"
Die Terraner kauerten sich in den Sichtschutz der Ruine. Augenblicke später glitten zwei Korvetten in wenigen Kilometern Höhe über sie hinweg. Jenseits der Ebene entfernten sie sich voneinander und zogen in Nord-SüdRichtung davon.
Bechner stieß eine deftige Verwünschung aus. „Sie suchen uns. Das kam schneller als erwartet."
„Khan?" wollte Sibyll Norden wissen.
Gloom Bechner antwortete nicht. Das „Wer sonst?" konnte er sich schenken. Statt dessen
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