1803 - Der Riese Schimbaa
die Herreach in eine neue Welt eingehen, die an einem anderen Ort lag.
Eine Wolke aus Dreck und Pflanzenteilen erhob sich neben den Gleisen. Sie kreiselte, schwoll an, bewegte sich schneller und zog eine Spur der Verwüstung durch ein blühendes Feld. Triokod hatte eine solche Erscheinung nie vorher gesehen.
Hundert Meter und höher stieg die Wolke auf, ein zuckender, tastender Rüssel, der mehrmals abrupt seine Richtung änderte, aber stetig neben dem Zug herlief. Dann übertönte ein Knistern, Prasseln und Krachen jedes andere Geräusch.
Dreck peitschte Triokod ins Gesicht und raubte ihm den Atem. Eingekeilt zwischen den anderen, konnte er nicht einmal schützend die Arme heben.
*
Von oben wirkt das Betfeld klein, scheint es kaum mehr als vierhundert Herreach Platz zu bieten, aber ich weiß, daß sich an die zweitausend Jünger des Kummerog hier versammeln können. Das Maueroval ist kleiner als in den Camps außerhalb der Städte, in denen die Jünger darauf vorbereitet werden, den Riesen Schimbaa entstehen zu lassen.
Ringsum gruppiert sich eine Vielfalt unterschiedlicher Gebäude; in ihnen liegen die Zimmer der Priester, aber auch Nahrungs- und Ausrüstungslager. Die Dächer sind flach, nur das Betfeld ist nicht überdacht.
Deshalb liege ich hier oben, habe mich in den Schindeln verkrallt und warte. Ich bin ein Ausgestoßener, habe kein Recht mehr, zu beten und Visionen entstehen zu lassen. Der Cleros wird mich töten, wenn ich hier oben entdeckt werde. Aber das schreckt mich nicht ab; der Tod kommt früher oder später zu jedem. Ich muß lernen, meine Kräfte zu beherrschen, sie in die richtigen Bahnen zu lenken; deshalb bin ich hier.
Sie kommen. Ich zähle fünfzig Clerea unterschiedlichen Alters. In zwei konzentrischen Kreisen, die Gesichter einander zugewandt, setzen sie sich auf den Boden und fassen sich an den Händen.
Fast unwiderstehlich wird der Zwang, mich über den Rand des Daches zu schwingen, zu ihnen zu gehen und mitzumachen. Sie beten. Der Klang aus der Tiefe ihrer Seele, in vorbestimmten Abständen von jeweils einem anderen Herreach durchbrochen, geht mir durch und durch. Ich kann mich dem nicht entziehen, und ich will es auch nicht. Ich muß lernen. Vielleicht ist mein Vater wirklich tot, aber ich höre noch heute seine Worte in mir nachklingen: „Deine Mutter, Gen, war ganz allein in der Lage, den vielgestaltigen Brodik entstehen zu lassen. Ich habe mich mit ihr nicht aus Sympathie vereint, sondern weil ich hoffte, ein Kind zu zeugen, in dem sich unsere Kräfte potenzieren. Vielleicht wird dein Leben schwer sein, Gen, ich weiß es nicht. Mache das daraus, wozu du dich berufen fühlst - doch vergiß nie, daß wir Herreach Kinder des Gottes Kummerog sind. Einige kluge Köpfe unseres Volkes glauben Zeichen erkennen zu können, daß Kummerog bald erscheinen wird."
Das ist unser Geheimnis, Vater. Du sagtest mir außerdem, daß Mutter nicht weiß, warum du sie vorübergehend zur Frau genommen hast. Von mir wird sie es nie erfahren.
Mindestens zwölf Herreach müssen für ein Gebet zusammenkommen. Alter oder Bildungsstand sind unerheblich. Wichtig ist der Körperkontakt, und sobald,sie anfangen, sich in Trance zu versetzen, beschwören sie ein gemeinsames Abbild Gottes. Immer stellen sie sich vor, wie es wäre, wenn Kummerog endlich den Tempel verläßt. Das ist eine schöne und erhebende Vision.
Etwa eine Stunde" dauert ein Gebet. Am Ende fühlt jeder sich erleichtert und bereit für einen Tag voll schwerer Arbeit.
Jene Anhänger des Cleros, die im Gebet die größte visionäre Kraft entwickeln, werden zu Jüngern des Kummerog bestimmt. Von meinen Mitschülern besaß ich die größte Begabung, aber ich habe mich selbst ausgeschlossen. Niemand widersetzt sich ungestraft der Priesterschaft. Doch damit muß ich selbst fertig werden.
Sie beten. In Gedanken bin ich zwischen ihnen, spüre ihre Hände in meinen und gleite ab in jene zeitlose Geborgenheit, die mich glauben läßt, daß eine Schöpfung immer aufs Neue in uns selbst stattfindet. Wir selbst bestimmen unser Schicksal und das Schicksal unserer Umgebung.
Das Gebet endet nicht nach einer Stunde wie bei anderen Herreach. Ich bin schweißgebadet, als endlich im Betfeld halbmateriell der Zwerg Palomin erscheint. Er ist klein, kaum einen Meter hoch und häßlich. Die schiefen Schultern ‘und die bis zum Boden reichenden Arme machen ihn nicht ansehnlicher. Ohnehin haben die Clerea lange gebraucht, Palomin herbeizurufen; unter
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