1803 - Der Riese Schimbaa
ihnen sind Herreach, denen die rechte Begabung fehlt.
Oder sie lassen sich ablenken. Anders ist die unglückliche Gestalt nicht zu erklären. Ich möchte ihnen helfen, aber das verbietet sich von selbst.
Sie brauchen lange, um Palomin zu vervollständigen, und verdanken es nur dem Beistand zweier Mahner, die sich in ihren Kreis einreihen.
Meine Finger, meine Arme werden klamm, doch ich ziehe mich nicht zurück. Ich will sehen, was geschieht, will spüren, wie der Funke der Begabung in mir wächst und mich beherrscht.
Der vielgestaltige Brodik erscheint außerhalb des Betfeldes. Ich sehe ihn nicht, aber ich spüre, daß er da ist. Er entfernt sich; die Jünger schaffen es nicht, ihn zu kontrollieren. Nach einer Weile sehe ich die massige Gestalt mit den Säulenbeinen in einigen hundert Metern Entfernung. Brodik scheint unschlüssig, dann löst er sich auf. Es ist schwer, den Vielgestaltigen zu beherrschen. Vielleicht kann ich es eines Tages, sowie meine Mutter. Nur wenige Herreach besaßen jemals die Fähigkeit, allein eine Vision herbeizurufen. Ich glaube, es gibt nicht einmal in jeder Generation einen mit diesen Kräften.
Meinen Körper spüre ich nicht mehr. Die unbequeme Lage auf dem Dach ist daran schuld. Und den Zeitpunkt, mich ungehindert zurückzuziehen, habe ich längst verpaßt.
Die Taubheit des Körpers hilft mir jedoch, die Trance zu verstärken. Unter mir entsteht die mehrachsige Gretra, ein Wesen, das aus drei unabhängig beweglichen, dennoch zusammengehörigen Teilwesen besteht.
Gretra ist die letzte Stufe vor dem Riesen Schimbaa, für dessen Erschaffung es mindestens 5000 betende, ausgebildete Jünger braucht. Zu diesen Betern werden nur jene Herreach zugelassen, die schon in jungen Jahren in die Ausbildungscamps kamen und somit von klein auf mit der Erzeugung und Beherrschung der Manifestationen vertraut sind.
Schimbaa besitzt aus Traditionsgründen immer dieselbe Gestalt: ein zwölf Meter großer, näherungsweise nachgebildeter Herreach.
Hinter mir werden Stimmen laut. Die Jünger im Betfeld können sie nicht hören, aber ich muß mich endlich zurückziehen, bevor ich entdeckt werde.
Alles in mir ist angespannte Erwartung, ich löse mich aus der Gruppe, beginne andere Gebetsformeln zu murmeln. Leise nur, meine Lippen bewegen sich kaum.
Gretra zerfällt, obwohl keiner der betenden Jünger das will. Ich bin stärker als sie.
Zwei Teilgestalten der mehrachsigen Gretra stürmen mitten durch den Kreis hindurch und zerreißen den Körperkontakt. Benommen schrecken die Jünger auf, torkeln ziellos durcheinander. Mehr sehe ich nicht, weil ich mich selbst aus der Trance löse und mich schwerfällig zurückziehe. Wie mit glühenden Nadeln pulsieren die wiedererwachenden Lebensgeister durch meine Gliedmaßen; ich habe Mühe, den Halt nicht zu verlieren und abzustürzen.
Zwischen der Rückfront der Bethäuser und dem Thunam-Feld bietet sich mir kaum Deckung. Dennoch bleibe ich, wie schon vorher, unentdeckt. Im Schutz der dicht stehenden Pflanzen rolle ich mich zum Schlafen zusammen. Mein Tag ist zu Ende, der Tag anderer Herreach beginnt vielleicht in diesem Moment.
*
Die neue Nacht hatte gnädig die Wunden zugedeckt. Gen Triokod blickte hinaus in eine unergründliche Schwärze, in der nur wenige Sterne flimmerten.
Die Herreach waren gezwungen, sich anzupassen. Ihr Leben verlagerte sich in den Tag, in die Zeitspanne der Helligkeit, während die dunkle Hälfte für den Schlaf wie geschaffen schien. Niemand konnte in der Finsternis arbeiten, die Felder bestellen oder gar Kontorarbeiten erledigen.
Aber Anpassung, das war nicht so einfach und erforderte Zeit und eisernen Willen. Gen Triokod hatte während des ausklingenden Tages seiner Müdigkeit nachgegeben, und nun, in der Dunkelheit, fühlte er sich frisch gestärkt und munter.
Der Rauch der Braad-Ziegel brannte in seinen Augen. Er glaubte Blitze zu sehen, dort wo eigentlich vollkommene Schwärze sein sollte.
Die Blitze hatten Bestand, erhellten schlaglichtartig den Horizont. Ein neues Unwetter zog herauf.
Fauchend und dröhnend quälte sich der hoffnungslos überladene Zug der Millionenstadt Moond entgegen. Bis zur Ankunft würden noch viele Stunden vergehen.
6.
An Bord der PAPERMOON war von den Erdstößen nichts zu spüren, gleichwohl wurden sämtliche Erschütterungen mit syntronischer Genauigkeit aufgezeichnet.
Am 15. Oktober, um 3.33 Uhr Standardzeit, registrierten die Seismographen die erste Unregelmäßigkeit im
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