181 - Der ewige Turm
auch nur für einen Augenblick aus den Augen.
Die ersten Strahlen der Morgensonne hatten Rulfan schon früh geweckt, und nach einem Frühstücksmahl aus Früchten, Getreidefladen und zu warmem Wasser führte man sie in die große Halle, die Ruulays Stamm
»Moscherunenhalle« nannte. Dort war die Ratsversammlung schon seit zwei Stunden im Gange.
Ungefähr hundertzwanzig Männer und Frauen hockten unter dem hohen Kuppeldach auf dem Boden. Als Rulfan und seine beiden Gefährten hineingeführt wurden, hielt gerade die Älteste eine feurige Ansprache.
Sie forderte, mit dem Kometenfürsten Kontakt wegen eines Ersatzschutzpfandes aufzunehmen, und warnte dringend davor, an Krieg gegen die Turmherren auch nur zu denken.
Rulfan, Sulbar und Halil setzten sich auf den Boden des Kreisganges, der die Mittelhalle umgab, zwischen zwei Säulen. Sechs Wachen postierten sich in ihrer Nähe, und auch die Zugänge zum Innenhof und nach draußen waren plötzlich besetzt. Halil und Sulbar sahen sich verstohlen um und flüsterten miteinander. Rulfan vermutete, dass sie einen Fluchtweg für den Ernstfall austüftelten.
Er versuchte sich auf die Beratung der Moscherunen zu konzentrieren. Obwohl er die Sprache der Asiaten auf den Inseln einigermaßen beherrschte, war das gar nicht so einfach, denn sie sprachen schnell, und ihr Dialekt war ihm noch viel zu fremd, als dass er allzu viel verstehen konnte. Die Fraktion, die den Aufstand gegen die Turmherren wagen wollte, war zahlreicher als die der Befürworter des Status Quo. Allerdings saßen die einflussreicheren Leute in den Reihen der Konservativen: der Scheiko, die Älteste und ähnliche Bewahrer der Tradition. Sie alle fürchteten aus guten Gründen den Untergang der Moscherunen. Den beschworen sie mit düstersten Worten und wiesen ständig auf das Schicksal des Bankerstammes hin.
Bald entstand eine Pattsituation. Die Streitreden gingen hin und her, wurden lauter und hitziger. Rulfan fürchtete schon, eine Schlägerei würde wieder ausbrechen, doch plötzlich stürzten zwei Kundschafter durch den Haupteingang in die Moscherunenhalle. »Sie kommen!«, riefen sie in die Halle. »Vier bewaffnete Boten des Kometenfürsten!«
Honbur sprang auf und riss sein Schwert aus der Scheide. »Schlagen wir ihnen die Köpfe ab!« Auch andere junge Moscherunen zückten die Waffen und stießen ähnliche Vorschläge aus. In diesem Moment war Rulfan froh, dass man ihnen die Schwerter und Säbel noch gelassen hatte.
»Wartet!« Ruulay, der bisher geschwiegen hatte, erhob seine Stimme.
»Wir wollen erst einmal hören, was sie zu sagen haben.«
Der Scheiko stand auf. »Es ist ein Wunder, dass sie nicht mit einer Kriegsrotte kommen und angreifen!« Er ging zum Portal und ließ sich zehn Schritte davor auf dem Boden nieder.
Die Leute flüsterten und tuschelten miteinander. Als sich draußen Schritte näherten, trat vollkommene Stille ein.
Ein paar Atemzüge später erschienen vier Krieger des Kometenfürsten auf der Schwelle des Moscherunenportals. Zwei hatten lang Kriegsbogen auf den Rücken gespannt, einer trug eine Kriegsaxt und der vierte eine Wurflanze. Sie hatten die Kapuzen über die Köpfe und tief in die Stirn gezogen, und Rulfan konnte nur kurze schwarze Bärte, bronzefarbene Haut und sehr schmale Augen erkennen.
Einer von ihnen trat drei Schritte weit in die Moscherunenhalle. »Die Jungfrau, die ihr heute Morgen am Schutzpfandstein festgebunden habt, ist geflohen«, sagte er mit gepresster, schneidend scharfer Stimme. Er schlug seinen Mantel zurück und griff in einen großen abgewetzten Lederbeutel, den er an einem Strick an der Hüfte trug. »Der hier hat sie befreit.« An den Haaren zog er einen abgeschlagenen Schädel heraus und warf ihn auf den Boden. Polternd schlug er auf, rollte ein paar Schritte weit, zog eine Blutspur hinter sich her und blieb vor dem Scheiko liegen. Dessen Rücken straffte sich, er riss Mund und Augen auf und streckte dem Schädel die Arme mit gespreizten Fingern entgegen.
Ein Aufschrei ging durch die Menge, denn die meisten erkannten die Züge des blaugrauen, blutigen Gesichts, das einst Charlondo gehört hatte. »Der Erste Turmherr und Kometenfürst Reezar hat gesehen, wie ihr das Schutzpfand pünktlich an den Stein gebunden und euch danach zurückgezogen habt«, sagte der Sprecher der Boten. »Er hält es also für denkbar, dass die Befreiung der Jungfrau die Tat dieses Einzelnen war, dieses Wahnsinnigen. Deswegen erhaltet ihr die Möglichkeit, euren Gehorsam
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