181 - Die Hölleneiche
ihrem Blick und sah eine mächtige schwarze Eiche, die abgestorben wirkte.
»Ist später als andere Bäume dran, wie?« sagte Vicky. »Neue Blätter zu kriegen, meine ich,«
Lisa fuhr links ran und stoppte den Wagen. »Eigenartig.«
»Stört dich etwas an dem Baum? Er scheint uralt zu sein«, sagte Vicky. Und tot, dachte sie.
»Vor kurzem hatte er schon kleine grüne Blätter. Und heute… kein einziges Blatt mehr.«
»Vielleicht ist er krank«, nahm Vicky an. »Überall sterben Bäume, weil sie der Umweltbelastung nicht mehr gewachsen sind. Saurer Regen, vergifteter Boden, überdüngte Äcker…«
Lisa stieg aus.
»Er kommt mir irgendwie verändert vor«, sagte sie nachdenklich. »Er scheint… gewachsen zu sein, und seine Form scheint sich auch verändert zu haben.«
»Das mußt du dir einbilden, Lisa. Kein Baum wächst so schnell, daß man es schon nach wenigen Tagen merkt.«
Vicky stieg ebenfalls aus.
Der Baum sah die beiden Mädchen! »Es ist eine sehr schöne Eiche. Trotz des scheinbaren Wirrwarrs der Äste ein architektonisches Meisterwerk der Natur«, meinte Vicky.
»Wieso bin ich eigentlich noch nie auf die Idee gekommen, diesen Baum zu malen?«
»Du kannst es jederzeit nachholen«, antwortete Vicky, »Die Eiche wird ja wohl noch eine Weile dort stehen.« Ein eigenartiges Gefühl stieg in Lisa Whitfield hoch, je länger sie den alten Baum betrachtete. Sie hatte keine Erklärung dafür. War es Angst?
Unsinn, dachte sie, aber es rieselte ihr aus irgendeinem unerfindlichen Grund eiskalt über die Wirbelsäule.
»Laß uns weiterfahren«, sagte sie rasch und stieg wieder ein.
Vicky nahm neben ihr Platz, und Lisa setzte die Heimfahrt fort.
Lisas Haus paßte hervorragend ins Ortsbild. Es hatte ein steiles anthrazitfarbenes Walmdach mit einer hübschen Gaube, sah wie eine tiefgezogene Mütze aus.
»Gefällt es dir?« fragte die Malerin -ein wenig stolz auf ihr Heim.
»Es ist sehr hübsch«, antwortete Vicky Bonney.
»Warte erst, bis du drinnen bist. Ich habe das Haus nach meinen Ideen eingerichtet, da ließ ich keinen Innenarchitekten ran.«
Im ganzen Erdgeschoß glänzte weißer Marmor, auf dem im Wohnbereich große, geschmackvoll gemusterte Teppiche lagen. Die Bilder an den Wänden hatte Lisa Whitfield selbstverständlich alle selbst gemalt.
»Wunderschön«, lobte Vicky ehrlich, »Sehr gemütlich.«
Lisa zeigte der Freundin auch das helle Atelier mit den großen Fenstern.
»Hier scheint fast den ganzen Tag die Sonne herein - wenn sie scheint«, sagte die Malerin. »Heute macht sie uns diese Freude leider nicht… Ich weiß, es ist früher Vormittag, aber ich frage dich trotzdem: Möchtest du einen Drink? Ich würde mit dir gern darauf anstoßen, daß du hier bist.«
»Na schön«, sagte Vicky. »Aber nur einen ganz kleinen.«
Lisa bereitete die Drinks und erwähnte dabei Vickys künstlerische Tätigkeit. »Meine ehemalige Schulfreundin ist heute eine erfolgreiche Autorin. Weißt du, daß ich sehr stolz auf dich bin? Klingt blöd, ich weiß, aber es ist so. Ich habe ein paar von deinen Büchern. Die mußt sie mir nachher signieren. Sie stehen bei mir nicht nur im Schrank, ich habe sie auch gelesen.«
»Dafür habe ich sie eigentlich geschrieben«, erwiderte Vicky lächelnd.
»Ist es schwierig, sich immer wieder eine neue Geschichte einfallen zu lassen?«
»Die besten Ideen lieferte mir das Leben. Ich bereite sie genau genommen nur ein wenig auf.«
»Dann wird unser Wiedersehen wohl auch in einem deiner nächsten Romane Vorkommen.«
»Kann schon sein«, gab Vicky zu.
»Würde mich freuen«, sagte Lisa Whitfield und reichte der Freundin ihr Glas. »Auf unser Wiedersehen.«
***
»Ich habe Angst vor der Nacht«, sagte James Kingsley mit belegter Stimme.
»Wir haben alle Schotten dichtgemacht, Großvater, uns kann nichts passieren«, gab Janice zurück.
Es war später Nachmittag, der Tag verlor merklich an Farbe und Helligkeit.
»Wissen wir, wozu das Böse imstande ist?« fragte der alte Mann. Langsam schüttelte er den Kopf. »Nein, mein Kind, wir wissen es nicht, und diese Ungewißheit macht mir Angst.«
»Du warst bei diesem schwarzen Baum, hast die Tote abgeschnitten, und nichts ist dir geschehen.«
»Vielleicht ist es dem Höllenbaum nicht möglich, am Tag seine ganze Kraft zu entfalten. Die Nacht - sagt man - ist die Verbündete des Bösen.«
»Versuch jetzt nicht an die Nacht und an das, was sie uns vielleicht bringen wird, zu denken, Großvater. Wir werden es früh genug
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