1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
zu verschaffen. Dann füllte sie eine Schale mit Tee, den der Arzt verordnet hatte, und reichte ihn, vorsichtig gekühlt, in kleinen Pausen der Mutter dar. Als dieselbe getrunken hatte, fragte Marie: »Soll ich dir vorlesen?« Ein Wink des Auges war ihr genug, um ein Andachtsbuch herbeizuholen, in welchem die Mutter jeden Morgen zu lesen pflegte. Mit sanfter, aber fester Stimme begann sie nun das ernste Geschäft. Die schlichte Frömmigkeit, die einfache Würde der Gesinnung, welche in dem Buche waltete, stärkte auch ihr banges Herz, daß es sich mit Kraft erhob in den irdischen Leiden und Beängstigungen. Nach wenigen Seiten kam sie an eine Stelle, welche für ihre Lage besonders geschrieben zu sein schien. Sie las sie, tief im Innersten von der größten Wahrheit durchdrungen, mit erhöhter Stimme, mit wachsender Kraft der Ergebung und des Vertrauens, so daß die Mutter auf ihrem Krankenlager von den freudigen Worten der Tröstung stärkend aufgerichtet wurde und mit belebterm Auge zuhörte. Marie, welche es nicht unterließ, in kleinen Zeiträumen über das Buch hinweg die Kranke anzublicken, um jedem ihrer Wünsche zuvorzukommen, bemerkte den Eindruck, welchen die Stelle gemacht hatte. »Soll ich dies noch einmal lesen, beste Mutter?« fragte sie freudig, denn sie kannte deren Gewohnheit, Stellen, die ihr besonders zusagten, zu wiederholen. Die Kranke lächelte und winkte mit dem Haupt. Marie las: »Es gibt Zeiten im Leben, wo sich uns der heitere Himmel ganz zu verbergen scheint, und eine graue, trübe Wolke nach der andern heraufzieht, und über unserm Haupte verweilt. Wir meinen dann wohl oft, nun sei das Maß gefüllt und wir wüßten nicht, wie uns noch ein härteres Los, ein schmerzlicheres Leid treffen könnte. Das aber ist die Gesinnung eines verzagenden Gemüts, welches die unendlichen Wohltaten Gottes verkennt. Seine Gnade ist zu groß, um euch das Maß des Elends erschöpfen zu lassen; ihr würdet es nicht ertragen; ehe ihr den Kelch zur Hälfte leert, schwinden euere irdischen Kräfte. Aber weshalb glaubt ihr, daß ihr die Tiefe des Jammers erschöpft habt? Weil ihr nicht mehr mit dankendem Herzen betrachtet, welche reiche Fülle göttlicher Wohltaten euch auch dann noch immer umgibt, wenn ihr nur den Stachel des Schmerzes zu empfinden glaubt. Eine Frucht von dem Baume des Lebens zernagt der Wurm, und sie fällt verdorrt herab; aber noch prangt die ganze übrige Krone in reicher Fülle der Früchte, des Laubes, der Blüten und Keime zu tausend neuen Früchten. Ihr aber beweinet nur, was ihr verloren habt, und schließet euer undankbares Auge allem, was euch bleibt. Einer Mutter stirbt ein geliebtes Kind; sie klagt im tiefsten Schmerz und sieht nicht, wie ein blühender Kreis lieblicher Söhne und Töchter sie noch umringt, durch deren Liebe der Herr ihr tausend Wonnestunden der Zukunft zu bereiten trachtet. Und wenn euch alles geraubt würde, wenn eine Waise allein, trostlos und jammernd ohne Rat und Hilfe stände, wenn sie nirgends mehr eine Pforte erblickte, die aus dem öden Abgrunde des Jammers in das heitere Tal der Freude zurückführte – bliebe ihr nicht der alliebende Vater? Ebnet seine Hand nicht tausend Pfade, wo das sterbliche Auge keinen Ausweg mehr entdeckt? Ist alles Weh, was euch betrifft, nicht schnell vorüberziehendes Weh der Erde? Und wohnet die ewige Freude nicht in den unendlichen Räumen des Himmels? Wenn es hier düstere Nacht ist, wenn Nebel und Wolken euch die Gestirne verdecken, flammen nicht tausend blitzende Sonnen im Weltraum über dem niederen Erdengewölbe? Ja, ruht nicht die Hälfte dieser Erde selber noch im Glanz des Lichts, während die andere in schnellfliehende Nacht gehüllt ist? So gewiß euch der Anbruch des rosigen Morgens ist, so gewiß ist dem Glaubenden die Seligkeit nach der kurzen Stunde der Prüfung. Darum, liebe Freunde, seid getrost. Ein Auge gibt es, das dringt durch die tiefste Nacht der Wolken und zählt die Tränen der Bekümmerten, die zu seinem sanften Strahl hinaufblicken; ein Herz gibt es, das fühlt den Jammer in jeder Brust, die sich nicht treulos von ihm abwendet; eine Hand gibt es, die reicht in den dunkelsten Abgrund und ergreift die Hand des Hilflosen, die sich ihr entgegenstreckt. Dies Auge wacht stets über euch, dies Herz schlägt mit dem euern, diese Hand leitet euch auf dunkeln Wegen der Drangsal und der Gefahr. Darum seid getrost, denn wo ihr wandelt, da wandelt der Herr mit euch, und er verlasset keinen, der ihm getreu ist.«
Im
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