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1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

Titel: 1812 - Ein historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ludwig Rellstab
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Tochterpflichten hatte Marie an ihr erfüllt. Stumm, mit herabgesunkenen, ineinandergefalteten Händen stand sie ernst betrachtend an der Bahre und heftete die Blicke auf das Angesicht der Mutter. Noch schwebten die Züge des Lebens darauf, noch war es nicht jene kalte, starre Maske der Toten, noch schien sie nur in einem leichten Schlummer zu ruhen, von dem sie das Auge bald wieder aufschlagen könne. Es war Marien einen Augenblick lang zumute, als sei es unmöglich, daß jedes Band der Vereinigung nunmehr auf immer zerrissen sei, daß dieses Auge sie nie wieder freundlich anblicken, dieser Mund niemals mehr sanfte Worte zu ihr reden sollte. Da trat eine heftige Angst und Beklemmung sie an; sie mußte ins Freie. Rasch nahm sie die Kinder bei der Hand und sprach: »Laßt uns ein wenig hinausgehen in den Garten, die Sonne scheint so schön.« Sie gingen.
    Indem Marie aus der Tür trat, standen zwei weibliche Gestalten vor ihr, die sie im ersten Augenblicke, weil der Schmerz sie allem entfremdet hatte, nicht erkannte, sondern überrascht und unsicher anblickte. Es war die Gräfin und Lodoiska, welche, um die gestern auf der Spazierfahrt gemachte Bekanntschaft fortzusetzen, einen ersten Besuch bei Marien und deren Mutter machen wollten. Noch mehr als Marie über die Kommenden erstaunten diese über den Anblick der bleichen verweinten Gestalt; doch das gegenseitige Befremden dauerte nur wenige Sekunden, denn auf die Frage der Gräfin: »Mein Gott, was ist Ihnen begegnet?« erwiderte Marie mit schwacher Stimme: »Sie treten in ein Haus der Trauer! Eine Waise steht vor Ihnen!« Überwältigt von der Gewalt des Schmerzes, sank sie halb bewußtlos der Gräfin in die Arme, welche diese mitleidig öffnend gegen sie ausbreitete. Mit Wärme drückte sie die im stummen Schmerz an ihrer Brust Ruhende an sich und sprach sanft: »Sei meine Tochter!« Und Lodoiska setzte weich hinzu, indem sie Mariens herabgesunkene Hand ergriff: »Und meine Schwester!« O wie wohltuend, wie sanft legten sich diese tröstenden Stimmen mitfühlender Seelen, die der Himmel der Gequälten im Augenblicke ihrer tiefsten Einsamkeit auf der Erde zusandte, an das bebende, blutende Herz! Wie hatte dieser eine, warme Augenblick die kalten, ehernen Schranken, welche das Leben sonst so lange zwischen die Menschen stellt und sie damit fern auseinander hält, hinweggeschmolzen! Jahre gemeinsamer, unbedeutender Erlebnisse verknüpfen nicht so fest als ein einziges, tieferschütterndes Ereignis, wo die menschliche Seele, in dem erhöhten Gefühle der Nichtigkeit alles Äußerlichen und Zufälligen, nur ihresgleichen sucht, nur in der Liebe die Wahrheit erkennt. Auf dem klaren Strome der Freude rinnen die Seelen der Menschen ineinander; noch inniger aber auf dem düstern des Schmerzes.
    So waren die drei Frauen durch diesen einen Augenblick für das Leben verbunden, und Marie empfand mit klarer Einsicht die erste Segnung, die Gott dem Menschen aus trüben Geschicken bereitet, die, daß seine Seele reicher an empfangender und spendender Liebe wird. – Der aufgeregte, beklommene Zustand der vom heftigsten Schmerz Zerrissenen forderte, daß sie, bevor sie die neue mütterliche und schwesterliche Freundin an die Bahre führte, einige beruhigende Gänge durch den Garten tat.
    Als auf diesem Wege der ernste, Zutrauen einflößende Trost der Gräfin und Lodoiskas weiche Schwesterliebe ihrer trauernden Brust im Innersten wohltaten, da stieg es in ihrer Seele fast als der Gedanke eines Verbrechens auf, daß irgendeine Falte ihres Herzens derjenigen verborgen sein sollte, deren Liebe sich ihr so ganz hingab. Der Entschluß, beiden mitzuteilen, was Rasinski für ihren Bruder getan, wurde zur unausweichbarcn Notwendigkeit für sie. »Ich kann,« sprach sie und wandte ihr offenes blaues Auge zu der Gräfin empor, »ich kann es nicht ertragen, einer so edeln Frau halb verschleiert, mit mißtrauischen Rückhalten gegenüberzustehen. Sie haben mich nach meinem Bruder gefragt; o, Sie kennen ihn, denn in Ihrem Hause fand er als Ludwig Soren nebst seinem Freunde Bernhard die gastlichste Aufnahme.« – »Wie?« rief die Gräfin erstaunt; »jener junge Mann, der durch sein männlich ernstes Wesen uns allen so lieb geworden, wäre Ihr Bruder?« – »Er ist es; doch muß es das tiefste Geheimnis bleiben,« sprach Marie, und erzählte hierauf den ganzen Zusammenhang der Begebenheiten, durch die Ludwig in seine wunderbare Lage versetzt worden war. Dabei nannte sie auch die Namen St.-Luces

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