1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Berechnung der bedrängten Lage anderer, um ihnen das Äußerste abzupressen, entwarf er schnell den teuflischen Plan, zuerst die Angst der Schwester durch die Bedrohung des Bruders zu erregen und dann durch das Versprechen der Rettung – auf das Halten kam es ihm freilich nicht an – ihre Gunst zu erwerben. Deshalb war ihm eigentlich Beaucaires habsüchtige, gerade auf das Ziel losgehende List zuwider. Vollends aber würde er erbittert gewesen sein, wenn er geahnt hätte, daß dieser sein Nebenbuhler sei und mit größerer Frechheit, daher aber auch mit minder künstlicher Verfeinerung der Bosheit demselben Zwecke nachstrebte.
St.-Luces wollte eine Liebesintrige anspinnen; er berechnete, daß das weiche Herz einer Trauernden das empfänglichste für den Trost sei, den eine geheuchelte innige Teilnahme gewährt; er wollte, mit einem Worte, Marien verführen, aber nicht ohne ihr Gelegenheit zu geben, ihre Schwachheit durch eine Art von Heiligenschein zu verhüllen, indem er an ihre Gunst die Rettung des Bruders zu knüpfen dachte. Beaucaire hatte denselben Plan, doch roher; mit dem Henkerschwert über dem Haupte des Bruders wollte er die geängstigte Schwester in seine Arme treiben. Ihm war es nur um den sinnlichen Genuß zu tun, und er kümmerte sich nicht um den Abscheu seines Opfers.
St.-Luces, feiner gebildet und durch viele ähnliche Abenteuer seines Lebens, bei denen ihm eine große Gewandtheit und bestechendes Äußere zu Hilfe kamen, denn in seiner Jugend war er sogar ein schöner Mann gewesen, berechnete, daß der Reiz einer solchen Verbindung durch die getäuschte Neigung des weiblichen Gemüts unendlich erhöht werde. Er wollte nicht eher unter seiner Larve erkannt sein, bis er selbst mit der völligsten Sättigung und Gleichgültigkeit das angesponnene Verhältnis wieder trennte. Diese Pläne verbargen Beaucaire und St.-Luces natürlich einander aufs sorgfältigste, und in der Tat ahnte keiner von beiden die Absicht des Gegners, einmal, weil sie einen ganz verschiedenen Weg einschlugen, und zweitens auch, weil einer den andern entweder nicht für schlau oder boshaft genug hielt, um so viel Nutzen aus der Lage der Verhältnisse zu ziehen. Beaucaire spürte unablässig ringsumher, ob er nicht den Aufenthalt Ludwigs bei der Armee, den Namen, den er jetzt führte, mit Bestimmtheit erfahren könnte. Daher lauerte er wie der Ameisenlöwe in der versteckten Finsternis seiner Höhle nur auf einen Brief Mariens an ihren Bruder, um ihn mit seinen Fangzangen hinunterzuziehen. Dann wollte er vor die Unglückliche hintreten, um sie durch das Medusenhaupt seiner Entdeckung zu erstarren und so die Willenlose hinzuopfern. Der Tod der Mutter war daher auch ihm willkommen gewesen; denn mit Recht glaubte er, daß Marie ihn dem Bruder sogleich oder doch in den nächsten Tagen melden werde. Er hatte es deshalb nicht an Geld fehlen lassen, um den verräterischen Postbeamten aufmerksam zu machen. Diesmal verschwendete er es jedoch vergeblich, weil Mariens Brief längst durch die Gräfin abgesandt war, die ihn einem nach Dresden reisenden Landsmanne anvertraut hatte, um ihn dort auf die Post zu geben. Von St.-Luces' Absichten hatte Beaucaire, da dieser ihn durch Schmeicheleien und Zuvorkommenheit in die größte Sicherheit und so leicht getäuschte eitle Selbstgefälligkeit einwiegte, keine Ahnung und daher auch kein Arg aus dessen Spaziergängen, um so mehr, da derselbe sie höchst geschickt einzuleiten und zu verbergen wußte.
Es war jetzt das erstemal, daß St.-Luces Marien allein traf. Sie erwiderte seine Anrede mit einigen befangenen Worten und wollte sich entfernen; doch er tat, als bemerke er dies nicht, und zwang sie durch eine rasche Antwort zu bleiben. »Wie hinterlistig lauert das Schicksal oft auf uns! Wer hätte ahnen sollen, daß Sie, von dem heitern Ausflug froh zurückkehrend, daheim das Unglück so finster vor der Schwelle gelagert finden sollten! O glauben Sie mir, Ihr Trauerfall war so erschütternd, daß er kein Herz ungerührt gelassen hat; noch jetzt wendet sich der Gedanke, das Gespräch immer wieder darauf zurück, und es gibt kaum ein Auge in diesem von so vielen Fremden überfüllten Orte, das nicht Ihrem Schicksal eine Träne geweint hätte.«
Marie schauderte; denn da sie wußte, welchen Einfluß St.-Luces auf das Schicksal ihres Bruders geübt hatte, erfüllte seine Nähe sie nur mit einem unheimlichen Grauen. Doch suchte sie sich zu fassen. »Ich weiß es,« sprach sie nach einigen
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