1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Antlitz der Mutter, um ihrem Atemzuge zu lauschen. Vergebens, er war entflohen; es regte sich kein Hauch des Lebens mehr auf den erbleichenden Lippen. Der strenge Spruch des Schicksals hatte sich vollendet; Marie stand nun einsam in der Welt.
Einige Minuten blieb sie nur ihrem kalt erstarrenden Schmerze, dessen ungeheueres Maß sie noch nicht zu übersehen vermochte, gegenüber. Die ersten, welche die tiefe Grabesstille unterbrachen, waren der Arzt und Frau Holder. Jener hatte kaum einen Blick auf das Lager geworfen, als er ausrief: »Wir kommen zu spät; ich ahnte es wohl; hier war keine Hilfe mehr möglich!« Diese Worte rissen Marien aus ihrer dumpfen, starren Betäubung empor. Sie wandte sich zu der betrübt dastehenden, gutmütigen Frau Holder um und wollte ihr mit sanfter Stimme sagen: »Meine Mutter ist tot!« doch mit jeder Silbe schlug der Schmerz heftigere Töne an, und endete fast in einem Schrei der Angst, mit dem Marie der rasch Herbeieilenden in die Arme sank. Doch dauerte dieser gewaltsame Zustand, der nur ein Überbrausen der bis dahin mit Kraft beherrschten Empfindungen war, welche jetzt die zu schwachen Schranken durchbrachen, nicht lange. Bald hörte der Strom der Schmerzen auf, wild zwischen den Ufern dahinzurauschen, und floß wieder besänftigt im ruhigern Bette. – –
Marie ließ sich die Sorge nicht nehmen, wenigstens wollte sie dieselbe der Frau Holder nicht allein überlassen, die Abgeschiedene auf eine reinliche Lagerstatt zu bringen und sie einfach aber vollständig zu kleiden. Sie flüchtete nicht vor ihrem Schmerze, wie schwächere Seelen pflegen, sondern erkannte, daß er jetzt ihr Teuerstes sei. Denn sie trauerte ja um den Verlust eines geliebten Wesens; so mußte es ihr einziger wahrer Trost sein, sich ganz, äußerlich wie innerlich, der Beschäftigung mit demselben zu widmen. Jede tiefer empfindende Seele liebt ihren Schmerz und findet ihr trauriges Glück allein darin, ihm nachzuhängen. Sie flieht die Zerstreuungen des Lebens, denn sie weiß, daß jene scheinbaren Bilder der Heiterkeit und des Glücks, mit denen man sich zu umgeben vermag, in solchen Tagen nur die Freude heucheln, und neben dieser glänzenden Lüge steht die düstere Gestalt der Wahrheit desto unerbittlicher und zerstört die Täuschung. Denn das Leben gleicht einem Spiegel: wer davortritt, sieht nur sich selbst; alle die reizenden Bilder dahinter sind nur Schein und liegen dem ewig ferne, der sie nicht in der eigenen Brust trägt.
Die beiden Töchter der Wirtin, Anna und Therese, das kleine liebliche Wesen, traten ein, als Marie eben die Umkleidung der Mutter vollendet hatte. In weiße Tücher gehüllt, lag sie auf der Bahre; das Antlitz war sanft, ohne Ausdruck des Leidens. Ein stilles Lächeln umschwebte die Lippen. Die beiden Kinder trugen ein Körbchen mit Blumen gefüllt, welches die Mutter ihnen gegeben hatte, um damit das Lager der Toten auszuschmücken. Anna, die Ältere, sollte den Auftrag ausrichten, allein das arme Kind vermochte vor Tränen nicht zu sprechen; Therese aber rief freudig: »Sieh nur die schönen Blumen, die sollst du alle haben.«
Marie betrachtete die Kinder mit einem wehmütigen Lächeln. Sie küßte die Ältere und drückte sie sanft weinend ans Herz; dann nahm sie die kleine Therese, welche die Händchen verlangend zu ihr emporhielt, auf den Arm, ließ sich von dem Kinde liebkosend umschlingen und verbarg in der Umarmung desselben ihr tränendes Antlitz. Auch das Kind fing jetzt an zu weinen, jedoch nur, weil der Kummer der andern es ängstlich machte. Marie tröstete es liebreich beruhigend und sprach: »Weine nicht, mein Herzchen, sieh, auch ich bin schon wieder fröhlich! Komm, wir wollen die Blumen nehmen und sie auf das Bett der Mutter streuen. Siehst du wohl, wie sanft sie schläft?« Das Kind wurde wieder ruhig und sprach: »Ich will dir helfen.« – »Ja, das sollst du auch, Therese, du sollst mir alle Blumen zureichen.« Sie gab hierauf der Kleinen das Körbchen, welches diese neben sich stellte und ihr nun einzeln die Blumen daraus mit den kleinen Ärmchen entgegenstreckte. Anna half das Lager der Toten damit schmücken; das fromme Geschäft geschah fast schweigend, nur daß Therese, durch ihre unschuldigen, ahnungslosen Fragen und durch ihr oft sogar munteres Dazwischenrufen bisweilen ein freundlich beruhigendes Wort von Marien nötig machte.
Die Hingeschiedene lag nun einfach geschmückt, von Blumen umgeben, auf dem Totenlager; die letzten frommen
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