1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
nicht einmal mehr im ersten Schmucke des Lenzes, während jenseits jener hohen Bergkolosse, die hinter der Stadt aufstiegen, vielleicht die Blüten noch im dumpfen Winterschlaf lagen. Hier aber prangten die Ulmen, die Kastanien in der Fülle des Laubes, ein gewürzig duftender Teppich, mit Tausenden von wilden Nelken und Aurikeln besät, dehnte sich über die Wiesen hin; das Getreide war bereits hoch aufgeschossen, ja, selbst die Rebe hatte sich schon mit dem vollen Schmucke ihres breiten Laubes bekleidet und zierte die Giebelseiten der reinlichen Häuser. – Ludwig konnte zur Rechten weithin die Landstraße übersehen, zur Linken lagen Markt und Gassen von Duomo d'Ossola fast zu seinen Füßen. Er sah die fröhlichen, zwanglosen italienischen Mädchen mit ihren breiten Strohhüten auf dem Markte lustwandeln, deutlich konnte er den Kram einer Fruchthändlerin, die ihre Körbe mit Orangen und Feigen vor sich aufgestellt hatte, erkennen, Knaben schlugen den Ballon gewandt in die Lüfte, französische Dragoner, von denen ein Pikett in der Stadt stand, saßen auf einer Bank vor dem Wachthause und schwatzten. Er hörte das fern brausende Getöse der durcheinander schwirrenden Stimmen jubelnder Knaben, lachender Mädchen, ausrufender Verkäufer; ja, sogar einzelne Töne von den Gesängen eines Zitherspielers, der einen großen Kreis von Hörern um sich versammelt hatte, drangen durch die Stille des Abends zu ihm herüber. Dieses kleine, bunte, verworrene Treiben menschlicher Lust und Betriebsamkeit stach wunderbar gegen den majestätischen Ernst, die feierliche Stille des Hochgebirges ab, das sich steil, mächtig, den Fuß und Gürtel in bläuliche Nebel gehüllt, dicht hinter dem Städtchen auftürmte und die Schneehäupter in den Wolken verbarg.
Ludwig stand in Gedanken verloren. Plötzlich weckte ihn der Schall eines Posthorns, und munterer Peitschenknall schlug an sein Ohr. Ein mit vier Pferden bespannter offener Reisewagen kam die Landstraße von Baveno daher und rollte dem Städtchen zu. Es saßen zwei Frauen darin. Die eine, ältere, war offenbar eine Dienerin. Die jüngere, deren dunkles Gewand durch ein weißes, leichtes Spitzentuch gehoben wurde, trug über dem Strohhut einen grünen Reiseschleier, den sie eben zurückschlug, so daß er im Luftzug rückwärts flatterte. Dieser Anblick weckte eine lebhafte Erinnerung in Ludwig auf. Gerade bei seinem Eintritt in Italien, als er über den Großen Bernhard in das Tal von Aosta hinabstieg, hatte er ein weibliches Wesen getroffen, dessen Bild ihm nicht verloren gegangen war und für welches er ein ähnliches Zeichen des äußern Erkennens in der Vorstellung trug. Damals nämlich sah er beim Besteigen des Berges, kurz vor dem Hospizium, vor sich eine Karawane, wie es schien, von reisenden Engländern, unter denen ihm eine auf dem Maultiere sitzende schlanke weibliche Gestalt auffiel, die sich das Antlitz, um gegen den blendenden Glanz des Schnees geschützt zu sein, durch einen grünen Schleier verhüllt hatte. Obwohl die Reisenden sich nur wenige hundert Schritte vor ihm befanden, und er, von einem seltsam lebhaften Gefühl getrieben, sich bestrebte, sie einzuholen, so gelang es ihm dennoch nicht, da sie zwar nur durch einen kurzen Raum, aber durch einen mühsam zurückzulegenden Weg von ihm getrennt waren. So blieb der grüne Schleier ihm ein leuchtender Zielpunkt auf den weißen Schneefeldern, bis er in der Pforte des Hospiziums verschwand. Er hoffte, abends an der Tafel den Gegenstand seiner ahnungsvollen Teilnahme kennen zu lernen; doch vergeblich. Nach dem, was er hörte, vermutete er, daß die Unpäßlichkeit einer ältern Dame, wahrscheinlich der Mutter des jungen Mädchens, die Ursache sei, weshalb beide in ihrem Gemache blieben. Am andern Morgen hatten die Reisenden ungewöhnlich frühzeitig ihren Weg fortgesetzt. Ludwig erfuhr es kaum, als ihn ein Gefühl der Sehnsucht nach der Fremden ergriff, das er selbst belächeln mußte, welches ihn aber dennoch mit einem unwiderstehlichen Reiz antrieb, ihr so rasch als möglich zu folgen, obgleich es anfangs seine Absicht gewesen war, einen Tag im Hospizium zu verweilen. Ein junger, rüstiger Wanderer, wie er war, mußte er, zumal abwärts, eine Karawane englischer, mit vielem Gepäck belasteter Reisender bald einholen. In der Tat entdeckte er auch schon nach wenigen Stunden bei einer Wendung des Tales, die einen weiten Blick abwärts gestattete, den grünen Schleier, dieses magisch lockende Zeichen, nach dem sein
Weitere Kostenlose Bücher