1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
O Ludwig, und Du führst die Waffen für die, welche so namenloses Elend über Deinen Vater und über Dein Vaterland gebracht haben! Ich mache Dir keine Vorwürfe, Du Lieber; aber kann das Unglück höher steigen, können wir tiefer sinken in der Schmach? Meine heißen Gebete für Dich sende ich täglich gen Himmel! Aus tiefster Seele aber bete ich auch für die Erlösung unsers Vaterlandes von dem ehernen Joche, unter das es sich beugen muß. Ich muß schließen, – grüße Deine Freunde von mir, den treuen Bernhard, den edeln Rasinski – o daß es erst anders würde in der Welt!
Deine Marie.«
Ludwig hatte vor Erstaunen und Überraschung kaum den Brief zu Ende lesen können. Erst jetzt erinnerte er sich lebhaft und deutlich wieder einiger Begebenheiten aus seinen frühesten Knabenjahren – denn er zählte fünf Jahre zur Zeit des unglücklichen Ereignisses –; jetzt erst, wie sie erklärt wurden, traten die mancherlei kleinen Beziehungen, Winke und Worte, die er von der Mutter über das Schicksal des Vaters gehört, gleich hellen Sternen auf dem dunkeln Nachthimmel der Vergangenheit hervor. Aber wie vieles blieb in seinen düstern Wolken verschleiert!
Rasinski wurde vorzüglich durch die letzten Worte des Briefes erschüttert, die eine Wunde seines Herzens trafen, von der selbst Ludwig keine Ahnung hatte, da er mit männlicher Festigkeit seinen Schmerz in verschlossener Brust trug. Er stand mit verschränkten Armen gegen den Pfeiler des Kamins gelehnt und blickte düster vor sich hin.
Auf Bernhard schien dieser Brief den schwächsten Eindruck zu machen, da seine Seele sich nur noch mit dem Ereignis des ersten beschäftigte. Er saß auf der andern Seite am Feuer und spielte mit seinem Ringe, indem er ihn am Finger hin und her drehte. »Im ersten Augenblicke, mein guter Ludwig,« fing er nach einer Pause an, »regen uns solche Nachrichten heftig auf. Aber auf die Dauer ändern sie wenig in unserm Leben: An Wunder glaube ich in der Brust, im Gemüt, wo man will; aber im Leben sind sie selten. Ein Vater, der zwanzig Jahre lang verschollen ist, muß zu den Toten gezählt werden; um einen, den wir so lange entbehrten, kann auch der Schmerz nicht groß sein. Aber Marie in ihrer Lage, in der Entwürdigung, die sie erfahren, in der Angst, die sie dulden mußte, ist ein armes, blutendes Opferlamm!«
»Du bist so gut und treu, Bernhard,« entgegnete Ludwig, »du verstehst das Herz deines Freundes so tief: solltest du nicht begreifen, daß es ihn im Innersten bewegen und ergreifen muß, daß er vielleicht noch einen Vater besitzt, der unendliches Unglück, unendlichen Jammer erduldet haben kann und noch erduldet? Wärest du in diesem Falle –«
»Und bin ich's etwa nicht?« fuhr Bernhard fast wild auf. »Wenigstens in einem ähnlichen, und darum weiß ich, was davon zu halten ist. Ich könnte vielleicht noch eine ganze Sippschaft, Vater und Mutter, Basen und Vettern in der Welt haben und auffinden, aber ich beteuere dir, daß ich mich jetzt auch nicht einen Pfifferling um die kümmern werde, die sich zwanzig Jahre nicht um mich bekümmerten. Es ist freilich anders mit dir – denn du weißt wenigstens, daß dein Vater dich nicht verstoßen hat, du hast ihn früh verloren, und alles bürgt dir dafür, daß er ein edler Mann war. Nun, du weißt, ich fühle auch – aber Marie geht mir jetzt näher ans Herz.«
»Du hast mir nie gesagt, daß du noch lebende Eltern habest«, sprach Ludwig erstaunt.
»Ich erfuhr es selbst erst vor zwei Jahren in London, als mein Pflegevater gestorben war; aber damals hatte ich Kopf und Herz voll anderer Dinge – du weißt ja –, und seitdem hat die Zeit mich gleichgültig gemacht. Da, an diesem Ringe (er warf ihn über den Tisch zu Ludwig hin) sollte ich vielleicht meine wahren Eltern erkennen; und doch hätte ich ihn vor drei Monaten unbedenklich um etwas Gewissern willen, was mir lieber war, weggegeben, wenn ich nicht ein dummer Tölpel gewesen wäre.«
Da Rasinski und Ludwig ihn fragend und befremdet anblickten, fuhr er, während Ludwig den Ring betrachtete, fort: »Mein Pflegevater, den ich für meinen wirklichen hielt, weißt du, war ein armer Landprediger bei Würzburg. Als ich im zehnten Jahre anfing gut zu zeichnen, schickte er mich nach Dresden zu seinem Bruder, den du ja gekannt hast. Daß es mir schlecht genug hier erging bei dem alten, strengen, philisterhaften Kauz, brauche ich dir auch nicht zu wiederholen. Ich zerriß endlich alle Ketten und ging auf Reisen. In
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