1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Häuslichkeit gewinnen. Anders die Gräfin, die mit ihren Wünschen stets über die Schwelle des Hauses hinauseilte. Marie wollte nur das Glück, die Ruhe, den Frieden für ihr Vaterland; der Gräfin war es Bedürfnis der Seele, an Glanz, Ruhm und Macht desselben zu denken. Auf dem bewegten Gemälde der Völkerkämpfe behielt Marie nur ihre Landesgenossen und ihre nächsten Freunde als Vertreter derselben im Auge; die Gräfin dagegen hielt den Blick auf die Helden des Tages gerichtet und verfolgte mit banger Spannung das Los der Häupter. Marie sah zwar das Schlachtfeld im Hauptraum ihres Bildes; doch im Vordergrund ihren Bruder, Bernhard und, wie sie sich scheu gestand, Rasinski. Die Gräfin stand mitten in der Schlacht; ihr Blick verfolgte die Fahnen, die Feldherren, selbst in dem Bruder sah sie am Tage der Entscheidung zuerst den Führer. Lodoiska dagegen, ganz Jungfrau, ganz Liebe, hörte die dumpfen Donner der Schlacht nur aus der Ferne; aber der blutende, erblassende Geliebte sank ewig sterbend vor sie hin. Die Liebe hatte ihr schönes Herz so ganz erfüllt, daß für nichts anderes Raum blieb. Selbst die schwärmerische Frömmigkeit, mit der sie jeden Tag die Messe besuchte, war nur eine andere Form ihrer liebenden Angst; denn ihr Gebet stieg ja für den Freund ihrer Seele empor. Wie es aber unter edeln Gemütern zu geschehen pflegt, so hielt jede der Frauen die andere für die bessere, vollkommnere, nur weil jene besaß, was dieser fehlte. So betrachtete Lodoiska ihre mütterliche Beschützerin mit der tiefsten Ehrfurcht und ordnete sich Marien mit Demut unter, weil sie in beiden die Kraft anstaunte, ihr Herz mächtig zu bezwingen. Die Gräfin und Marie dagegen verehrten die heilige Gewalt der Liebe in Lodoiskas Brust, die aus ihrer reinen Flamme alles Fremde ausschied und das ganze Herz des Mädchens allein erfüllte und durchdrang. Und Marie sah staunend zu der Heldin empor, unter deren Schutz sie sich scheu flüchtend begeben hatte.
Auf dem Tische der Gräfin lag eine Landkarte von Rußland ausgebreitet; sie verfolgte genau nach den Zeitungsnachrichten jeden Marsch, jede Bewegung des Korps, und bezeichnete dieselbe mit Stecknadeln, deren Köpfe sie mit sinnreichen Kennzeichen versehen hatte, um nicht nur Feind und Freund, sondern auch den Stand der einzelnen Korps mit schnellem Überblicke zu unterscheiden. Für Rasinskis Regiment hatte Lodoiska eine goldene Nadel aus ihrem Haar genommen; der glänzende Knopf derselben zeigte ihrem Auge jeden Tag, wo ihr Herz den Geliebten suchen solle.
Die letzten Nachrichten hatte sie nach der Einnahme von Smolensk erhalten. Mit Lebhaftigkeit sprach die Gräfin über dieses Ereignis und knüpfte daran die frohesten Hoffnungen für den Ausgang des Kampfes.
»Schon wir,« sprach Marie, »die wir hier in weiter Ferne sitzen und nach vollendetem Kampfe die Nachricht empfangen, daß unsere Teuersten noch unversehrt unter den Lebenden wandeln – schon wir verfolgen die Berichte von der Schlacht mit ängstlich klopfendem Herzen. Wie müßte uns erst zumute sein, wenn das Verderben uns so nahe wäre als jenen Bewohnern von Smolensk; wenn wir, wie diese, unsere Brüder, Väter, Gatten vor den Toren wüßten, im Kampf auf Leben und Tod, um Freiheit, Vaterland und Herd, um unser Leben, unsere Ehre!«
»Mich würde das gequälte Herz auf die Mauern treiben,« rief die Gräfin, indem sie, wie sie in der Lebhaftigkeit immer pflegte, rasch auf und nieder durch das Zimmer schritt; »ich müßte mit meinen Augen dem Lose des Kampfes folgen.«
»Das vermöchte ich nicht,« erwiderte Marie mit sanfter Miene; »doch glaube ich,« setzte sie mit dem ungewissen Tone der Bescheidenheit hinzu, »ich würde Standhaftigkeit genug bewahren, um die Verwundeten zu pflegen.«
»Ach, und ich,« rief Lodoiska seufzend aus, »ich vermöchte gewiß nichts, als vor dem Bilde der heiligen Mutter Gottes Schutz für das teuere Haupt des Geliebten zu erflehen.« Auch sie stand auf, aber um ihre hervordringenden Tränen zu verbergen. Die Frauen hatten sich wahrhaft, ohne Hehl ausgesprochen; nur Lodoiska verkannte sich; denn sie hielt für Schwäche, was Stärke war. Im Augenblicke der Gefahr würde sie mit dem Heldenmut einer Heiligen die hilfreiche Pflege mitten in die Schlacht getragen, den Geliebten unter den drohenden Blitzen des Todes aufgesucht und gerettet haben.
Um ihre wallende Brust zu beruhigen, war sie hinaus in den Garten getreten. Die Mittagssonne strahlte hell durch die Wipfel der hohen
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