1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
jeder handelt nach dem Gefühle seiner Brust, und nach diesem richtet uns der Ewige, der allein das Maß der widerstreitenden Kräfte in uns abzuwägen vermag.«
In ihrem Eifer für die Freundin hatte Marie die Besonderheit derselben zu verteidigen gewußt, ohne selbst die innere Klarheit des Gefühls zu verlieren, die ihr in ihrem Handeln und Empfinden den richtigen Weg zeigte. Sie hatte mit Lebhaftigkeit sich in die schöne Seite des Charakters ihrer Freundin hineingefühlt. Lodoiska war ein reines Kind der Natur, in den Träumen ihrer Jugend dunkel aufgewachsen, nur den Gefühlen ihres Herzens hingegeben, die, rein und edel an sich, sie fast bewußtlos zum Guten und Schönen drängten. Marie hatte ihre Brust durch den klaren Born eines verwickeltern Bewußtseins gereinigt; Ludwigs Ernst, sein scharfes Denken waren, da er sich viel mit der Bildung der Schwester beschäftigte, nicht ohne Einfluß geblieben. Sie hatte das empfangene geistige Gut in ihr Eigentum verwandelt; auf dem Boden des weiblichen Herzens wuchs die edle Saat vielleicht nicht mehr so stolz und hoch, blühte aber zarter. Sie fühlte mit Bewußtsein; Urteil und Neigung verschmolzen sich in ihr, ohne daß sie es wollte und forderte. So empfand sie auch, ohne es sich zur klaren Erkenntnis gebracht zu haben, daß in der sittlich bewußten Seele die Leidenschaft gar nicht so wild emporwachsen kann, und daß mit ihr, wenn sie das Herz mit edler Flamme durchdringt, auch alle andern edeln Kräfte, die das Gleichgewicht herstellen müssen, gehoben werden.
Lodoiska hätte ohne das Beispiel der festen, entschlossenen Gräfin, der sanft gefaßten Freundin, sich selbst gewiß nicht mit so bangen Blicken beobachtet. Sie erkannte sich erst richtiger durch die Vergleichung und lernte das Bedürfnis einer Macht kennen, die ihr fehlte, deren Macht sie unter andern Umständen aber vielleicht niemals geahnt hätte. Dazu schlummerte ein unheimlicher Gedanke in ihrer tiefsten Seele; sie wagte nicht, ihn vor sich selbst klar werden zu lassen, viel weniger hatte sie eine fremde Brust zur Vertrauten desselben gemacht. Von dem Augenblick an, wo Jaromir ihr teuer wurde, betrachtete sie – und sie erinnerte sich dessen nur zu wohl – Françoise Alisettes verführerische Reize mit ängstlichen Blicken. Das Mädchen schien ihr unwiderstehlich; der Vorfall beim Abmarsch des Regiments, den sie mit angesehen, so sehr er nur einer leichten Galanterie ähnlich sah, war ihr unvergeßlich geblieben. Er hatte einen Funken der Eifersucht – dies harte Wort möchte man nicht gern dafür gebrauchen –, oder doch der Beängstigung in ihre Seele geworfen, der, wie oft sie ihn durch ernsten Unwillen gegen sich selbst zu ersticken suchte, immer neu aufglimmte und sich in dem empfänglichen Stoff ihres Herzens langsam weiterschlich. Bisweilen wähnte sie ihn erloschen, aber plötzlich brach er bei irgendeinem Anlaß wieder neu hervor und schien sich nur tiefer in die innersten Falten ihrer Seele eingenistet zu haben. Dies war eigentlich die Ursache ihres bangen Grams, ihrer schwärmerischen Trauer. Nicht daß das Gespenst des Argwohns sie so verfolgt hätte; allein sie betrachtete bei dem Gefühl ihrer unverbrüchlichen Treue gegen den Geliebten einen Verdacht gegen die seinige als das schwärzeste Verbrechen. So litt sie die zwiefache Qual der Angst und der Reue über ihre eigene Schuld; nur in der heißesten Liebe, in der hingebendsten Aufopferung glaubte sie ihre sträflichen Gedanken abbüßen zu können, und daher wuchs ihre krankhafte, schwärmerische Leidenschaft im doppelten Verhältnis zu der beängstigenden Qual, die sie stumm in ihrem Innern trug. Konnte sie also durch ihre Liebe und allein in ihr glücklich sein? Nur in den berauschten Augenblicken des gänzlichen Vergessens war es möglich, wenn sie Briefe von Jaromir empfing, wenn sie ihm schrieb und im Schreiben sich glühender und glühender entflammte; wenn sie von seiner Nähe, seiner Umarmung träumte. Doch bald hing wieder schwarzes Gewölk an dem Himmel ihrer Hoffnungen, und Giftpflanzen sproßten rings um die reine Blüte ihrer Liebe empor. Mit dieser nagenden Qual verband sich eine tiefe Anlage zur Schwermut, die von Jugend auf in ihrer Seele wohnte; diese schuf düstere, schreckende Bilder, welche ihr, da sie oft in unruhigen Träumen wiederkehrten, bald wie unfehlbare Ahnungen erschienen. Oder woben die fieberhafte Leidenschaft, der krankhaft angeregte Reiz ihrer Nerven vielleicht ein unsichtbares Band zwischen
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