1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
gewöhnlich ins Schwanken zu kommen; der heitere Himmel, den der Dichter als Kontrast des Gewitters, das er heraufbeschwört, anfangs über uns ausspannte, verfinstert sich dann allgemach und wir erblicken den Kampf des Lichts mit der Nacht der tragischen Schickung. Die melodischen Anklänge glücklicher Tage sind noch nicht ganz verhallt, aber schon rollen die dumpfen Töne des Donners in der Ferne. Ähnlich der Herbst, der vielleicht seinen größten Reiz darin hat, daß wir alle Reize der Natur im Entfliehen erblicken. So werden uns die Unsrigen in der Abschiedsstunde erst teuer; dort erkennen wir erst ihren Wert; ja das Gleichgültige steigt hoch im Preise, wenn man sich davon trennen soll!«
»Sie haben recht. Doch möchte ich dem Herbst wohl auch einigen selbständigen Wert zugestehen. Der Beweis scheint mir darin zu liegen, daß ich mich im Sommer schon auf denselben freue; wer aber hoffte der Abschiedsstunde entgegen?«
»Ich will mein Gleichnis nicht verteidigen. Keines ist unverwundbar; an irgendeiner Stelle dringt der Pfeil hindurch. Alle verlieren, am meisten freilich die scherzhaften, wenn man sie beharrlich durchführen will. Mir deucht, es ist auch der größte Mangel an Poesie, dies zu wollen; nur schlechte Dichter tun es. Die Schönheit des Gleichnisses besteht nur in der ahnungsvollen, aber schon tief verständlichen Bedeutung der Wahrheit; man soll sie daraus erkennen, empfinden, aber nicht erweisen noch erklären wollen.«
Die Gräfin hörte den Worten Arnheims aufmerksam zu; ein Gespräch, welches ihren Scharfsinn anregte, war ihr immer das liebste. Marie hatte sich zu Lodoiska gesellt, deren Freude sie jetzt mit einem ähnlich beglückten Herzen teilen konnte.
Plötzlich tönte das feierliche Geläute der Glocken von der nahen Kathedrale in das Rauschen der Bäume, das Wehen des Windes hinein. »Zu dieser ungewöhnlichen Zeit? Was mag das bedeuten?« fragte die Gräfin. Die Glockenstimmen vervielfältigten sich; von nähern und fernern Türmen her drang der Schall durch die Vormittagsstille. »Es wird der Feier des Sieges gelten«, bemerkte der Rittmeister.
»Sie haben recht. Ja, und es ist ein Sieg, für den wir dem Himmel danken müssen! Wie das Herz mir groß wird bei diesen Klängen. Ein Sieg! ein Sieg! Aus den dunkeln Wetterwolken der Schlacht bricht vielleicht die neue Morgenröte für unser Vaterland an! Jetzt verstehe ich den Trieb der Unruhe in meiner Brust; unter das betende, dankende Volk muß ich mich mischen, die glühende Seele im eigenen Gebet zum Himmel senden!« Sogleich wandte sie sich um und ging zurück dem Palaste zu. Ihr Entschluß war ein unwiderstehliches Gebot für die übrigen, auch wenn nicht der eigene Drang der Freude sie vor den Altar des Allmächtigen getrieben hätte.
»Keinen Wagen, keinen Wagen!« rief die Gräfin einem Bedienten zu, der, da er bemerkte, daß man sich zum Ausgehen anschicke, die Frage, ob er den Kutscher bestellen solle, auf der Zunge hatte. »Wir gehen zu Fuß. Wie das ganze Volk in die Kirche strömt, so auch wir. Es ist ein Tag der Demut, nicht des Stolzes. Und doch, wie stolz schlägt mir das Herz!« Indessen hatte sie einen dunkeln Schal übergeworfen; Arnheim bot ihr den Arm. Marie und Lodoiska folgten.
Auf den Gassen war alles in Bewegung. Das Volk strömte über die Plätze den Kirchen zu. Alle Glocken läuteten wie an dem Festtage eines Heiligen. Unter dem Hotel des Gesandten kreuzten sich zwei wallende dreifarbige Fahnen. Die in der Stadt anwesenden Truppen traten zusammen, um in Parade in die Kirche geführt zu werden. Wie durch Zaubermacht war der Alltag in einen hohen Feiertag verwandelt. Das Volk hatte seine Feierkleider angelegt; Männer, Frauen, Mädchen und Kinder, alles eilte in buntem Gemisch dem Altar des Herrn entgegen. Wie glänzten die feurigen, dunkeln Augen der Mädchen und Jünglinge! Jenen wallte unter dem Schleier das lange, schwarzgelockte Haar hervor und bedeckte den weißen Nacken. Diese hatten die hohe, mit Tressen besetzte Mütze, von der reiche Troddeln herabhingen, stolz auf die Stirn gedrückt und sich mit dem Ehrenschmuck des Mannes, dem Säbel, umgürtet. Marien ward fast bang ums Herz, als sie diese allgemeine Volksfreude wahrnahm. Ach, in ihrem Vaterlande hatte sie solch ein Fest noch nicht erlebt. Und wird man dort nicht über diesen Sieg trauern? Ist nicht unser Herz auf der Seite des Feindes, wenngleich unsere Vaterlandsgenossen, durch die Macht der Weltgeschicke bezwungen, gegen ihn ausgezogen
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