1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Erde, aber doch wünscht es jetzt sehnlich, noch einmal den Frühling sprossen zu sehen, seinen lieblichen Gruß zu empfangen. Sollte der düsterste Winter meines Lebens denn auch der letzte sein? Sollte ich scheiden müssen, ehe ich mein Vaterland wieder frei sehe von diesen Horden eingestürmter Frevler, die alles Heilige beflecken, stürzen und zertrümmern? Allgütiger Vater, du weißt es, wie ruhig ich den Blick auf die Gräber wende, die hier vor meinem Fenster um das Gotteshaus gereiht sind. Alle diese Toten schlummern in deiner Obhut! Sie ruhen gleich still und kühl unter dem grünen Teppich, mit dem der Lenz ihre Wohnung schmückt, wie unter der kalten Hülle des Schnees! Wie oft habe ich meine Hand zu dir erhoben, Herr des Himmels, und gebetet: Rufe mich ab, wenn du willst, ich trete demütig, aber freudig vor dich hin! Doch jetzt flehe ich, laß mich noch den Tag der Freude schauen, wo deine Hand die Frevler an dir zerschmettert; denn dein Blitz trifft die Heiden und dein Wort zermalmt die Feinde! O, laß mich den Tag noch schauen, wo der Lenz wieder anbricht über mein unglückliches Vaterland! Denn retten wirst du es, das glaubt mein Herz mit unerschütterlicher Zuversicht.
Mit solchen Gedanken stand der Greis oftmals, wenn die Abenddämmerung sich herabsenkte, an dem Fenster seiner Zelle und richtete den Blick in die winterliche Landschaft hinaus, auf den Kirchhof vor ihm und auf das heilige Haus des Herrn. Mit jedem Tage, wo das graue Wintergewölk sich düsterer zusammenzog, der Schnee dichter herabstäubte, der Sturm hohler um den Giebel des Hauses heulte, wuchsen die gläubigen Hoffnungen des frommen Vaters. Er sah im Geiste die Racheengel des Allmächtigen durch das drohende Gewölk ziehen und die Hand des Verderbens ausbreiten über dem Haupt frevelnder Feinde. Mit weissagender Brust erblickte er die langen düstern Züge der Raben in der Dämmerung über die Waldhöhen gebreitet; und nachts, wenn der Wolf von Hunger getrieben aus dem Walde hervorbrach und vor dem festverschlossenen Hause heulte, dachte er: Wo sollen die Heere der Frevler Speise und Obdach finden, wenn das hungerige Raubtier zu seinem grimmigsten Feinde flüchtet! Der Hunger wird euch mit scharfem Zahn verfolgen und an unsern Herd treiben; doch ihr sollt nicht gastlich geladen werden, niederzusitzen; unsere Hand, mit Keule und Schwert gewaffnet, soll euch verjagen oder zerschmettern auf unserer Schwelle. Die Tür des Russen, die sich jedem wirtbar öffnet, wird euch geschlossen sein, wie dem heulenden Wolf, und ihr sollt seine Beute werden. Das Feuer, zu dem der Erstarrte flüchtet vor dem Grimm des Winters, soll erlöschen, wenn ihr naht, oder die Hütte verzehren, unter der ihr ein Obdach sucht. Und wir werden nicht eher rasten, bis die letzte Spur euers frevelnden Fußes aus unserer Heimat verschwunden ist.
In solchen Betrachtungen lag der Greis oft noch um Mitternacht auf seinem Lager, wenn längst alles um ihn her still und tot war.
Da pochte mitten in der Nacht eine Hand an seine Pforte und eine männliche Stimme rief: »Aufgetan! Erwache, frommer Vater Gregor! Dein gastliches Haus soll späten Wanderern Obdach geben.«
Der Greis glaubte die Stimme zu kennen. Eilig warf er den Pelz über, öffnete das Fenster und blickte hinaus. Ein Schlitten hielt vor seiner Pforte. »Wer pocht so spät?« fragte Gregor. »Täuscht mich mein Ohr, oder hörte ich eine bekannte Stimme?« – »Ihr solltet sie wohl kennen, frommer Vater,« antwortete der Fremde; »ich bin Dolgorow.« – »Herr des Himmels! Ihr selbst?« rief Gregor erstaunend und eilte mit der Lampe nach der Pforte, um sie zu öffnen. Der Graf stand vor ihm.
»Seid mir gegrüßt, Vater, ihr müßt mir diese Nacht Obdach geben und auch jenen zweien im Schlitten«, redete er ihn an. »Ich werde euch wichtige Dinge entdecken.« Gregor leuchtete gegen den Schlitten. Es saßen zwei Frauen darin. Mit ahnender Seele trat er aus der Tür seines Hauses und näherte sich den Reisenden. Eine hohe, in dichte Schleier gehüllte Gestalt trat ihm entgegen. »Vater Gregor, seid mir gegrüßt!« redete sie ihn mit sanfter Stimme an, und er erkannte seine geliebte Tochter Feodorowna, und sie sank bewegt, stumm weinend an sein Herz. Die Mutter folgte ihr; Gregor geleitete sie ehrfurchtsvoll in seine Wohnung. »Was führt euch unter mein niederes Dach«, sprach er, als er das enge Gemach erreicht hatte, mit bewegter Stimme, denn ihn bekümmerte Feodorownas bleiches Antlitz, und sie trug
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