1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
und innerm Schauer; die Knie sanken unter ihm, denn die Kraft des Körpers und der Seele waren gleich erschöpft. Der jähe Wechsel zwischen Rettung und Verderben hatte ihn zerschmettert. Die ernste, ruhige Entscheidung seines Verhängnisses hatte er männlich, gefaßt ertragen; der Hohn des Schicksals, welches ihn dem Glück auf Augenblicke in den Schoß warf, um ihn in der nächsten Minute in desto tiefere Klüfte des Verderbens zu stürzen, ging über seine Kräfte hinaus. Er fühlte sich besiegt.
Unter rohen Mißhandlungen der Soldaten, von Faust- und Kolbenstößen vorwärtsgetrieben, wurde er mehr an den Ort, wo er sterben sollte, geschleppt, als er selbst dahin zu gehen vermochte. Sogar der höhnische Blick, womit Beaucaire ihn empfing, konnte ihm die Kraft nicht wiedergeben, um durch die letzten Augenblicke seines Lebens einen innern Triumph über diesen Elenden zu feiern. Nur nach Bernhard sah er sich angstvoll um, ob auch dieser jetzt wieder der Genosse seines traurigen Schicksals sein werde. Er bemerkte ihn nicht; die Verfolger mußten seiner noch nicht habhaft geworden sein. Die Hoffnung, daß der Freund gerettet sein könne, richtete ihn auf, wie tief er es auch empfand, daß der Tod ihm jetzt allein, ohne die tröstende Nähe der innern rüstigen Kraft Bernhards viel fürchterlicher entgegentrat als vor wenigen Minuten, wo er mit dem Wackern Arm in Arm den Weg des dunkeln Geheimnisses angetreten hatte.
Jetzt stand er an dem Pfahl. Zwei Soldaten waren beschäftigt, ihm mit einem Gewehrriemen die Arme auf dem Rücken zusammen und an den Pfosten zu binden, als fürchteten sie noch einmal seine Gegenwehr. Der Sergeant trat mit einem Tuche in der Hand auf ihn zu und sprach gerührt: »Ich will dir die Augen verbinden, Kamerad; es ist so besser.« Zuvor würde Ludwig die Binde verschmäht haben, jetzt ließ er den mitleidigen Kriegsgenossen gewähren. Da fiel ihm plötzlich ein, daß er ihn noch zum Überbringer seines letzten mündlichen Vermächtnisses machen könnte. »Mein Freund,« sprach er, während ihm dieser das Tuch über die Augen legte, »ihr wolltet mir einen letzten Liebesdienst erweisen. So geht denn, wenn ihr es möglich machen könnt, zu dem Obersten Rasinski, der unser Regiment befehligt, sagt ihm, wie ich gestorben sei, und bittet ihn, meine Schwester zu trösten. Und wenn ihr diesen Krieg überlebt, und in Warschau oder Dresden zu ihr gehen und ihr sagen wollt, daß –«
Plötzlich fielen einige Schüsse ganz in der Nähe. »Gilt das mir schon?« rief Ludwig, da der hinter ihm stehende Sergeant eben das befestigte Tuch losgelassen hatte und neben ihn getreten war. Doch dieser rief: »Teufel, was ist das?« und Ludwig hörte ihn hinwegspringen. Zugleich erhob sich ein verworrenes Geschrei und Getümmel und abermals fielen Schüsse ganz in der Nähe, so daß eine Kugel dicht an Ludwigs Ohr vorbeisauste. Fast in demselben Augenblicke hörte er Pferde in vollem Galopp hinter sich wegsprengen, und ein gemischtes Getöse von Kommandowörtern, verworrenem Geschrei, Waffengeklirr und Schüssen schallte um ihn her. »Vorwärts!« rief die Stimme des Sergeanten. »Schließt euere Glieder! Feuer!«
Ein Pelotonfeuer von etwa zwanzig Schüssen tönte schmetternd dicht vor Ludwigs Ohr; er wähnte, die Mündungen seien auf ihn gerichtet gewesen, und ein unwillkürlicher Todesschauer zuckte durch seine Glieder. Doch fühlte er sich lebend und unversehrt. Die dichte Finsternis, die ihn umgab, die Bande, die ihn fesselten, die äußerste Spannung aller seiner Nerven und Sinne jagte eine Flut verworrener Vorstellungen in ihm auf. Da er links Angriffsgeschrei und das Stampfen der Rosse hörte, glaubte er einen Augenblick, Rasinski komme mit seinen Reitern, um ihn zu befreien. Doch bald hörte er den heulenden Schlachtruf der Russen. Ein »Hurra« teilte die Lüfte. Die Waffen tobten an ihm vorbei; Pulverdampf drang ihm ins Gesicht, Geschrei, Ächzen, Waffengeklirr brausten um ihn her. Er war mitten im Gewühl des Gefechts; vergeblich strebte er seine Bande zu sprengen, um die Hülle von seinen Augen zu reißen; es blieb Nacht um ihn her. »Ist denn alles ein wüster, fürchterlicher Traum,« rief er endlich aus gepreßter Brust und wandte das Antlitz flehend gen Himmel; »erweckt mich denn niemand und endigt diese furchtbaren Qualen?« Doch keine Hand berührte ihn, und das Getümmel verlor sich nach und nach in die Ferne. So vergingen einige Minuten der unbeschreiblichsten Erwartung. Ludwig wand sich
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