1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
erblickte Beaucaire und St.-Luces, die halb nackt, vor Kälte und Angst zitternd, inmitten der frohlockenden Barbaren geführt wurden. »Allwaltender Gott!« rief er erschüttert unwillkürlich aus, »verworfen sei der, der an deiner lenkenden Hand zweifelt!« In diesem Augenblick trafen die Blicke der Gefangenen auf Ludwig, den man, sei es Zufall oder Mitleid, nicht beraubt hatte. St.-Luces verbarg sein Angesicht in beiden Händen und stand mit schlotternden Knien da. Doch Beaucaire biß ingrimmig die Zähne zusammen und murmelte einen nur halb verständlichen Fluch, von dem Ludwig nur die Worte Verräter und Spion unterschied. Er blickte den Elenden mit Würde an und rief ihm zu: »Ihr irrt euch! Ich bin nur ein Gefangener wie ihr! Das Walten des Ewigen hat euch euere Strafe gesandt! So hoffe ich, wird er mir seinen Schutz auch noch ferner angedeihen lassen.«
Die Russen, wie Ludwig jetzt sah, fast nur bewaffnete Landleute, schienen nunmehr beisammen zu sein. Sie trieben ihre Gefangenen auf einen Fleck, nahmen sie in die Mitte und brachen dann auf, um weiter durch den Wald zu ziehen.
Elftes Buch.
Erstes Kapitel.
Seitdem das Schloß des Grafen Dolgorow durch Rasinski überfallen und in Brand gesteckt war, hatte der Besitzer sich nicht wieder auf seinem Gute sehen lassen. Nach Abzug der Feinde fielen die eigenen Bauern plündernd über das brennende Gebäude her und suchten sich alles dessen zu bemächtigen, was die Flamme noch nicht verschlungen hatte. Doch mitten unter sie trat der Greis Gregor und erhob seine Stimme mit Strenge und Würde. »Wehret den Flammen, Freunde,« rief er ihnen zu, »rettet die Habe euers Herrn und bergt sie in euerer Hütte; doch wagt nicht, sie euch freventlich selbst zuzueignen. Der Fluch wird den Sohn Rußlands treffen, der die Treue gegen seinen Gebieter verletzt.«
Durch diese Ermahnungen zügelte der hochverehrte Vater die habsüchtige Begierde der Sklaven, die den ersten Augenblick ihrer Entfesselung benutzen wollten, um sich an den Gütern ihres Herrn zu bereichern. Sein Wort war Gesetz, der Wink seines Auges ein heiliges Gebot. Daher leisteten sie ihm auch jetzt Folge und strengten zuerst ihre Kräfte an, das Schloß vor der gänzlichen Zerstörung durch die Flammen zu sichern. Dann räumten sie aus, was sich in den Gemächern noch an kostbaren Geräten vorfand, und verbargen es in ihren tiefen Kellern, die keinem russischen Wohnhause, selbst nicht dem der ärmsten Leibeigenen, fehlen. So wurde das Hauptgebäude des Schlosses vor der Wut der Flamme gerettet und stand noch fast ganz unversehrt. Doch in den Gemächern sah es wüst und öde aus. In den meisten waren die Fenster zertrümmert, die Wände durch Rauch geschwärzt und alles Gerät hatten die Bauern hinweggeräumt. So hatte das Gebäude zwar von außen sein stattliches Ansehen behalten, doch war es im Innern so zerstört, daß kaum einige Zimmer bewohnt werden konnten.
Länger als drei Monate waren seit jenem Brande verflossen und der Graf seitdem nicht zurückgekehrt. Indessen hatte der eherne Strom des Kriegs sich so breit in das Land hinein ergossen, daß er jede Verbindung mit dem Innern desselben hemmte. Gregor, der seine Gemeinde durchaus nicht verlassen wollte, sondern als treuer Hüter derselben zurückgeblieben war, hatte daher seit jener Zeit weder von dem Grafen noch von Feodorowna auch nur das mindeste vernommen. Seine Hand hatte die Vermählte am Altare eingesegnet, seine Lippe zu dem Herrn um Segen und Heil für sie gebetet. Doch traute er selbst der Kraft seines Flehens zum himmlischen Vater nicht mit jener freudigen Zuversicht, die ihn sonst erfüllte; denn er wußte wohl, mit welchem zerrissenen Herzen er die Tochter seines Herzens scheiden und sie den neuen Lebenspfad, der für andere mit so duftenden Blumen geschmückt zu sein pflegt, betreten sah!
Die Tage waren gleichförmig verstrichen; der Herbst hatte die Blätter der Bäume abgestreift. Das Grün der Tannen und Fichten wurde mit jedem Tage dunkler und schwärzer; bald krönten sie sich mit Reif, und endlich breitete der Schnee seine ununterbrochene Decke über die Gipfel der Bäume, die Hügel und den erstarrten Strom aus. So ist mir denn abermals der Winter genahet, dachte Gregor, wenn er aus der Stille seiner einsamen Zelle, über die aufgeschlagene Bibel hinweg, in die traurige Öde des Dorfes hinausblickte; schon oft glaubte ich, es würde der letzte sein, und bereitete mich, vor den Herrn zu treten. Mein Herz hängt nicht an dieser
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