1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Sollte die Krankheit der Gräfin eine gefährliche Wendung genommen haben? Ich hatte mich unbeschreiblich auf den freundlichen Morgengruß gefreut; denn mir deucht, erst der helle, wirkliche Tag könne uns die klare Gewißheit unsers Glücks geben. Und nun–«
»Wenn nur nichts Schlimmeres hier im Hinterhalte lauert«, unterbrach ihn Bernhard und stand auf. »Aber mir ahnet nichts Gutes. Die Schwester hätte es ohne die dringendste Ursache nicht über sich vermocht, den Bruder, den sie erst gestern aufgefunden, heute aufs neue nicht zu begrüßen. Laß uns nur vorsichtig sein und uns ja nicht durch zu eifriges Nachfragen verraten.« – »So glaubst du, es habe sich etwas Gefährliches für uns ereignet?« fragte Ludwig erstaunt. – »Ich glaube ebensogut nichts als alles; denn beides ist gleich möglich«, erwiderte Bernhard rasch. »Hm! Vielleicht ist es aber auch nur Vorsicht der Schwester; sie hält sich absichtlich entfernt, um sich nicht zu verraten. Ich kenne die russische Sitte nicht genug, um zu wissen, was für eine Wirtin auffallend wäre oder nicht! Man muß ihr vertrauen, denn sie hat ebensoviel Kühnheit als Liebe gezeigt. Nur Geduld, es wird sich alles lösen.«
Ludwig ging beunruhigt auf und ab, ohne zu sprechen. Bald darauf kam Willhofen zurück und berichtete, daß auf Befehl der Fürstin die Gefangenen gut verpflegt würden, und mehr ihre Besorgnisse wegen des Schicksals ihrer Zukunft als gegenwärtige Übel sie quälten. Indessen vergingen ein, zwei, drei Stunden; Bianka ließ sich nicht sehen.
Neuntes Kapitel.
Bernhard schlug Ludwig einen Spaziergang ins Freie vor; er nahm ihn an. Sie gingen vor das Schloßtor hinaus und besahen die Lage des Gebäudes genauer. Es war rings von dichtem, hohem Fichtenwalde umgeben, durch den jedoch vier breite Wege ausgehauen waren, die einander rechtwinkelig kreuzten. Diese waren ziemlich gebahnt, doch im übrigen lag ringsumher der Schnee locker und hoch, so daß es zu Fuß wie zu Schlitten gleich mühsam schien, die großen Wege verlassend durch den Wald zu dringen. »Das Gebäude scheint alt«, meinte Bernhard. »Gotischer, neugriechischer, barbarischer Stil, alles durcheinander. Diese beiden runden Ecktürme mit ihren langen dünnen Spitzen müssen aus fernen Jahrhunderten herrühren. Wie weit mögen wir hier von der großen Straße abliegen?« – »Vier bis fünf Stunden hörte ich Willhofen sagen,« antwortete Ludwig; »und Smolensk liegt sieben Stunden von hier.« – »So schätzte ich's auch,« stimmte Bernhard ein; »dort hinüber muß es liegen. Wir würden den Weg dahin durch jene breite Allee nehmen müssen.« – »Es ist dieselbe, durch die wir gestern hierher gekommen sind«, meinte Ludwig.
»Hörst du nicht?« fragte Bernhard plötzlich und lauschte, indem er den Kopf seitwärts neigte und die Hand zum Auffangen des Schalls gegen das Ohr hielt. »Das ist Kanonendonner, in der Richtung von der Straße her; doch sehr fern.« – »Die Wälder hemmen den Schall«, sprach Ludwig und horchte gleichfalls auf die einzelnen dumpfen Schüsse, die man vernahm. – »Es könnte wohl das Neysche Korps sein, das sich dort schlägt, und vielleicht ist Rasinski bei dem Gefechte«, bemerkte Bernhard.
»Rasinski,« rief Ludwig aus; »wie mag der redliche Freund in Sorge um uns sein! O wenn wir ihm eine Nachricht zukommen lassen könnten!« – »Freilich wäre es gut«, sprach Bernhard und bewegte nachdenklich, aber zustimmend das Haupt. »Überhaupt muß ich dir sagen, so bequem wir es hier im Schlosse haben, so möchte ich mich doch lieber mit der Schwester unter seinem Schutze befinden als hier. Endlich einmal müßten doch die furchtbaren Strapazen ein Ende haben. Mit jedem Tage kämen wir der Heimat und den Verpflegungsanstalten für das Heer näher. Der Weg würde fest, eben – ich glaube das Schwerste haben wir überstanden.« – »Ach,« seufzte Ludwig, »wenn wir erst den Fuß auf vaterländischen Boden setzen könnten!«
Dem fernen Gefechte zuhorchend, gingen die Freunde noch eine Zeitlang auf und ab. Indessen war es schon spät am Nachmittag geworden, und es fing an zu dämmern. Sie kehrten ins Schloß zurück, weil ihnen diese Stunde als die des Mittagmahls angegeben war. Der Tisch war bereits gedeckt, aber für sie beide allein; selbst Willhofen wußte nichts Näheres über das Ausbleiben der Fürstin anzugeben, als daß sie mutmaßlich der kranken Gräfin Gesellschaft leisten müsse. »Zeige nur guten Mut vor den Dienern,« flüsterte
Weitere Kostenlose Bücher