1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Herr, das muß ich sagen. Vergeblich habe ich schon zu drei verschiedenen Malen an die Tür gepocht. Ich mußte endlich eintreten. Aber der Herr dort schläft noch fester.« Ludwig bedurfte einige Augenblicke, um die Erscheinungen um sich her in Zusammenhang mit seinen Morgentraumbildern, die ihn, wie so oft, in die Heimat geführt hatten, zu bringen. Er richtete sich auf; wie ein Wunder kam ihm die frische Kräftigkeit seiner Glieder vor; er fühlte die ganze Lust, den jugendlichen Mut des Lebens, wie jemals in seinen freudigsten Tagen. »Ja, es ist alles wirklich«, sprach er und blickte dem Alten froh in das redliche Angesicht. »O, welch ein Glück ist es, zu erwachen!«
Er sprang auf und betrachtete Bernhard; auch in seine Züge war die Lebensfrische zurückgekehrt, er atmete voll, aber leicht, ein Bild männlicher Gesundheit. »Bernhard,« sprach er und nahm seine Hand; »Bernhard!« Er erwachte nicht, bis ihm der Freund einen Kuß auf die Stirn drückte. Da schlug er das Auge auf, sah ihn groß an und sprach: »Ludwig, du bist es, der mich so freundlich weckt? Du hast einen schönen Traum verscheucht, aber er entflieht nur vor einer schönern Wirklichkeit.«
»Die Fürstin ist längst aufgestanden,« sprach Willhofen; »aber sie hat ausdrücklich befohlen, daß ich Sie nicht wecken sollte. Endlich schien es mir aber doch Zeit, da es nahe an Mittag ist.« – »Mittag?« fragte Bernhard, und er empfand eine Art von Beschämung. »Pfui, daß wir uns gleich als Langschläfer hier einführen müssen.« – »O die Gräfin liegt auch noch im Bette,« antwortete Willhofen, »und sogar die Gefangenen sind noch nicht abmarschiert; der gestrige Tag war für uns alle hart.« – »Welche Gefangenen?« fragte Bernhard. – »Die Franzosen, die wir gestern in unsere Gewalt bekamen«, entgegnete der Alte. »Seht dort; eben werden sie aufgestellt, um weiter ins Innere des Landes transportiert zu werden.«
Bernhard trat ans Fenster. Der Anblick der zwanzig Unglücklichen, die mit bleichen Gesichtern, schlecht gekleidet, halb verhungert dastanden und vor Frost oder Schauder über ihr Schicksal zitterten, schnitt ihm ins Herz. »Wohin bringt man sie?« fragte er. – »Vermutlich dahin,« antwortete Willhofen mit düsterm Blick, »wo ich so lange Jahre schmachtete, nach Sibirien; der Weg dahin ist leicht gefunden, aber zurück wird er schwer.« – »Und weshalb kamst du dorthin?« rief Ludwig. »Wer hatte das Recht, einen Unglücklichen, Gestrandeten in die Verbannung zu schicken?«
»Es geschah ganz nach dem Gesetze,« sprach Willhofen bitter; »ich war nackt und bloß an die Küste geworfen. Ein russischer Schenkwirt borgte mir fünf Rubel; zurückzahlen konnte ich sie nicht. Da verfiel ich ihm mit den Kräften meines Dienstes, und er verkaufte mich an den alten Fürsten Ochalskoi, der eben eine Kolonie auf seinen Gütern bei Perm stiftete.« – »Also um fünf Rubel!« – »Schmachtete ich achtzehn Jahre vergeblich nach der Heimat und allen den Meinigen.« – »Getrost, Alter,« klopfte ihm Bernhard auf die Schulter, »von nun an wird es besser gehen. Der Tag ist schön gewesen, wenn der Abend heiter ist. Doch was bedeutet das? Die Gefangenen scheinen ja wieder auseinander zu gehen?«
Willhofen blickte hin. Ein Kosak war in den Hof geritten und sprach mit den Bauern, die den Transport führten. »Ich will gleich sehen, was es gibt«, antwortete er und eilte hinaus. Nach wenigen Minuten kehrte er mit der Nachricht wieder, Dolgorow habe befohlen, die Leute hier noch in Gewahrsam zu halten, weil er morgen oder übermorgen durch glückliche Anfälle auf die französische Arrieregarde die Zahl der Gefangenen zu vermehren hoffe. Dann könnten sie alle zugleich transportiert werden. »So tue mir die Liebe, Freund,« sprach Bernhard, »und sorge, daß diese Unglücklichen, die schon halb dem Tode nahe sind, so gut gepflegt werden als möglich.« Willhofen versprach es und ging.
Beide Freunde hatten sich indessen angekleidet und begaben sich nach dem Saal, wo, wie ihnen angezeigt war, Bianka mit dem Frühstück ihrer wartete. Doch als sie eintraten, fanden sie das Gemach leer, obwohl der Tisch zum Frühstück bereitet war. Ein Diener, der bald darauf eintrat, meldete ihnen von seiten der Gräfin Dolgorow, daß die Fürstin nicht erscheinen werde. Ludwig war betroffen, doch Bernhard ging leicht darüber hinweg und setzte sich zum Frühstück. Als der Diener sich entfernt hatte, fragte Ludwig: »Was mag vorgefallen sein?
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