1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Boden kein grüner Halm sprießt, und der warme Sonnenstrahl in seine sieben kalten Farben zersplittert.
Ludwig entdeckte noch ein grünes Reis, das an einer sonnigen Stelle des Felsabhanges zwischen den Steinspalten wuchs und schon die zarten Blätter dem Licht entgegengebreitet hatte. Er pflückte es, um noch ein Erinnerungszeichen von den letzten Grenzen des Frühlings mit hineinzunehmen in die winterliche Wüste. Das kaum entfaltete Grün war das Bild seiner bangen Hoffnung, deren Knospe sich vor den steten, rauhen Berührungen des Fehlschlagens auch schon fast wieder geschlossen hatte. Wer weiß, dachte er, fallen die Blüten meiner Hoffnung nicht noch früher völlig ab, als diese kaum geöffneten Knospen welk an dem nahrungslosen Reis herabhangen. Er steckte den Zweig an seinen Hut, und, schweigend dem Führer folgend, ritt er vorwärts. Als sie den hohen Schneepaß, über den der Weg durch aufgesteckte Signalstangen bezeichnet war, erreicht hatten und sich nun mitten in der winterlichen Kälte am Fuße der beiden starren, Felskegel befanden, zwischen denen die berühmte Straße hindurchführt, da wandte sich Ludwig noch einmal zurück. Die Sonne neigte sich schon tief gegen die Berge und schoß ihre Strahlen nur noch eben über die blauen nebeligen Höhen hinweg. Soweit sein Auge reichte, sah er nur Schneefelder und Granitmassen. Sein Schmerz überfiel ihn mit gewaltsamer Heftigkeit auf diesem Kirchhof der Natur. O gütiger Gott, flehte sein Herz, laß sie mich wiederfinden, sie, die einzige, die den reinen Hoffnungsstrahl des Glücks in meine trauernde, tief verwundete Brust geworfen hat. Du hast sie mir gesendet, ungeahnt, ungehofft, gleich einer himmlischen Erscheinung aus deinem seligen Reiche; o laß sie nicht wie ein Traumbild spurlos wieder verschwinden, nimm sie mir nicht, wie du sie mir gegeben!
Der rauhe Sturm, der sich wild auf der nackten Höhe erhob und den Schnee in Wirbeln hoch aufjagte, war die einzige Antwort, welche er auf die stumme Klage seiner Brust erhielt; denn hier drückt die Natur niemand an die warme, liebevolle Brust; nur gegen kalte Leichensteine lehnt sich der ermüdete Wanderer. Eben verschwand auch die Sonne hinter einem Felsgipfel, und ein langer, kalt anhauchender Schatten fiel über das Schneefeld.
»Weiter,« sprach Ludwig zu dem Führer und wandte das Maultier um, »weiter!« – »Wir haben auch Eile nötig,« antwortete dieser, »wenn wir An der Matt vor Nacht erreichen wollen. Es könnte leicht sein, daß wir, wenn der Sturm anhält, beim Kapuziner in Realp übernachten müßten.«
Sie setzten den Weg fort; Ludwig in stummes Brüten versunken, die Führer, indem sie ein Gespräch in ihrem schweizerischen Dialekt führten, von dem ein Fremder wenig zu verstehen vermögend war, selbst wenn er darauf gehört hätte.
Der Sturm legte sich, als man die Höhe erst im Rücken hatte. Man war bei guter Zeit in Realp, wo man einige Augenblicke bei dem Kapuziner, der dort, in kleiner Hütte wohnend, die Fremden gastlich mit Brot, Honig, Milch, Käse und Wein bewirtet, anhielt. Die Spende wird unentgeltlich gereicht; was der Reisende dafür zahlen will, ist sein freies Geschenk, und der würdige Vater, der in dieser steten Einsamkeit seine Tage zubringt, empfängt es im Namen des Klosters in einer Armenbüchse. Auf Ludwigs Nachforschung nach Bianka erhielt er den Bescheid, daß am 17. Oktober der letzte Reisende diese Straße gezogen sei, und zur Bestätigung legte der Mönch ihm das Buch der Fremden des vorigen Jahres vor. Damit war seine letzte Hoffnung verschwunden; er seufzte tief, bekämpfte mühsam seine Tränen und stand auf, um zu gehen. »Der himmlische Vater gebe euch Trost und Segen«, sprach der Mönch. »Ihr scheint nicht froh!« Dabei reichte er ihm die Hand wohlwollend dar. Ludwig drückte sie stumm und verließ die kleine Zelle hastig.
Als er wieder ins Freie trat und der rauhe Wind den Schnee ringsum aufwirbelte, kam es ihm einen Augenblick vor, als würde er beruhigenden Frieden in der tiefen Einsamkeit dieses traulichen Wohnorts finden, wo er Zeit hätte, nur seinen Träumen nachzuhängen, nur in der Welt des Gedankens und des Gefühls zu leben, unbekümmert um das Schicksal der Erdenbewohner, die draußen in stetem Sturme der Ereignisse unstet auf- und niederschwanken. Doch wie, dachte er, könntest du denn hier dem Sturme entfliehen, der sich in deiner eigenen Brust erhebt? Wohnen nicht in der Seele auch des Einsamsten alle die gefährlichen Keime, die
Weitere Kostenlose Bücher