1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
plötzlich zu Giftpflanzen aufschießen, wenn der Feind sie tückisch heraustreibt? Und wer ist der Feind des Menschen, als er selbst? – Nein, auch das wäre eine Täuschung!
Gedankenvoll ritt er vor sich hin. Man befand sich jetzt in dem einsamen Urserental auf der Höhe des Gotthard, das im Sommer einem grünen Wiesenstrome zwischen hügeligen Schneeufern gleicht, jetzt aber ganz in das Leichentuch des Winters gehüllt war. Allgemach fing es an zu dunkeln. Wiederum erhob sich ein rauher Sturmwind und kräuselte die Schneeflocken hoch auf. Es wurde kalt. Jetzt begann Ludwig endlich seine große Erschöpfung zu empfinden, und der Körper machte das Bedürfnis nach Ruhe geltend. Mit einer Art von Verdruß über sich selbst empfand er, daß das Erreichen einer Herberge, daß ein behagliches Nachtlager unbemerkt zu einem dringenden Wunsche in ihm geworden war, der neben der tiefen Sehnsucht seines Gemüts Raum fand. Die Anstrengungen der letzten Tage waren aber auch fast unglaublich gewesen, und schwerlich möchte sonst jemals ein Reisender die Wegstrecke in einem Tage zurückgelegt haben, welche sich zwischen Ludwigs letztem Nachtlager und An der Matt, dem Ziele seiner heutigen Wanderung, ausdehnte.
Durch den kalten Nebel, der sich auf das Tal herabsenkte, und durch die dichten Schleier, mit denen die Nacht es umgab, schimmerte von Zeit zu Zeit, wie der Sturm das Gewölk zerriß, ein Lichtschimmer von erleuchteten Fenstern hindurch, die dem Wandernden als Leitstern dienten. Endlich erreichte er Häuser, und nach wenigen Minuten hielt er vor einem ansehnlichen Gebäude, dessen unteres Geschoß von hellen Lichtern glänzte.
Siebentes Kapitel.
»Gott sei Dank,« rief Joseph, »daß wir angelangt sind! Es war kein kleines Tagewerk. Ich bin sonst auch nicht der Schwächste, aber wir haben heut ein gut Stück Wegs zurückgelegt!« Der Maultierführer half Ludwig vom Sattel herab; ein dienstfertiger Kellner war schon zu derselben Hilfeleistung bereit und lud ihn ein, in das wohlgeheizte, erwärmte Gemach zu treten, wo schon einige andere, soeben erst eingetroffene Gäste beim Nachtessen versammelt seien.
Es machte einen eigentümlichen Eindruck auf Ludwig, aus der tiefen Öde und schauervollen Wildnis, in der er den ganzen Tag zugebracht hatte, sich plötzlich in die bequemen Gleise des geselligen Lebens, des muntern Verkehrs zurückgeführt zu sehen. Denn er trat in einen gastlichen, geräumigen Saal, in welchem er eine gedeckte Tafel fand, auf der eine Anzahl von Kerzen hell und einladend schimmerte. Am obern Ende, dem Ofen zunächst, saßen drei Reisende, denen man soeben das Abendessen aufgetragen hatte. »Die Herren haben sich bereits zu Tisch gesetzt,« sprach der Kellner; »ist Ihnen gefällig, mein Herr, sogleich an der Mahlzeit teilzunehmen, oder wünschen Sie zuerst auf ein Zimmer geführt zu werden, um sich's bequem zu machen?«
Ludwig, welcher keine Reisebequemlichkeiten weiter bei sich trug, sondern so, wie er ging und stand, fertig war, hätte auf diese Behaglichkeit verzichten müssen, wenn es ihm auch nicht angenehm gewesen wäre, sogleich zu Nacht zu essen, um nachher schnell zur Ruhe gehen zu können. Er näherte sich daher den Fremden und begrüßte sie, indem er Platz nehmen wollte, jedoch ohne sie anzureden. Sie erwiderten seinen Gruß mit einer so zuvorkommenden Gefälligkeit, daß er sich schon dadurch wohltuend berührt fühlte. Er faßte die Gäste näher ins Auge. Es schienen ihrer Tracht und ihrem gebräunten Antlitz nach Offiziere zu sein. Zwar hatten sie ihn französisch angeredet, doch zeigten sie etwas in ihrem Wesen, das einer andern Nation ähnlich sah. Zwei, von denen der Ältere etwa sechsunddreißig, der Jüngere einige zwanzig Jahre zählen mochte, hatten schwarzes Haar und kurze, schwarze Knebelbärte; der dritte war blondlockig und frisch von Farbe. Ludwig setzte sich und suchte, seiner Stimmung Gewalt antuend, die heitere Höflichkeit der Fremden zu erwidern. »Kommen die Herren aus Italien, oder wollen Sie dahin?« fragte er.
»Unser Weg,« erwiderte der Ältere, dessen hoher Wuchs und, man hätte sagen mögen, königliches Ansehen ihm etwas Gebietendes gaben, »unser Weg führt uns hoffentlich weit nach Norden. Vorläufig wollen wir jedoch nach Deutschland, und zwar nach Dresden, wohin der französische Kaiser sich in diesen Tagen begeben wird.« – »Der Krieg scheint also gewiß?« fragte Ludwig. – »Wir hoffen es«, sprach der Fremde mit einem Ton der Stimme, der mehr
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