1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
nebelgraue Gewölke; vereinzelt, langsam, ermattet wankte eine Schar bleicher Schattenbilder durch den Schnee. Es schienen Wesen aus einer andern Welt, wohin niemals der freundliche Blick der Sonne gedrungen war. In den hohlen, blutenden Augen wohnte der Jammer; das Gespenst des Hungers grinste aus eingesunkenen Wangen und verzerrten Lippen; heulend und klappernd schlug der Frost die Zähne gegeneinander, und auf der öden Stirn, in dem irren Blicke ließ sich das Grauen des Wahnsinns spüren. So taumelten die entsetzlichen Gestalten betäubt, bewußtlos durcheinander hin, und wo noch ein fühlendes Wesen unter ihnen wandelte, das wurde übersättigt mit dem Grausen ringsumher, bis der Schauder jeden Nerv abgestumpft hatte, oder das Gespenst des Wahnsinns endlich doch die Übermacht gewann und mit langsamen Qualen den vergeblich abwehrenden Geist mit seinen schauerlichen Fesseln umgab.
Bianka hatte den Schleier über ihr Antlitz gezogen und verhüllte sich so die Gemälde des Entsetzens um sie her. Bernhard und Ludwig gingen ihr zur Seite, sie trugen abwechselnd das Kind in eine große Decke gehüllt auf dem Rücken, denn die erstarrten Arme vermochten es nicht mehr zu umfassen. Das kleine Wesen allein weilte wie ein ahnungsloser Engel unter diesen Schreckensgestalten; die Kälte ermüdete es so, daß es meist in Schlaf sank, aber ohne zu erstarren, denn Biankas Liebe hatte es in undurchdringliche Hüllen geborgen. Rasinski schritt voran mit Jaromir, der, schwach und schwankend, der Stütze bedurfte: der edle, väterliche Freund leitete den Jüngling mit unermüdlicher Sorge. Sein Zustand flößte selbst inmitten dieses allgemeinen Jammers ein tiefes Erbarmen ein; denn der innere Gram erfüllte ihn so mit bittern Schmerzen, daß er die äußern Qualen fast bewußtlos ertrug. Er sprach nicht; nur ein leiser, banger Seufzer entschwebte von Zeit zu Zeit seinen Lippen. Solange das Licht, diese Bürgschaft der ewigen Gnade, den Luftkreis erfüllte, hielten sich die Hoffnungen noch aufrecht. Aber sobald die Nacht herabsank und sich finster über die erstarrte Erde lagerte, schwand der letzte glimmende Funke des Mutes aus der Brust und ein banges Verzagen beugte auch die Stärksten.
Nun war die Sonne verschwunden; die Dämmerung begann; der Weg senkte sich in die ungemessenen Tiefen eines düstern Waldes; keine Hoffnung mehr auf ein schirmendes Obdach. Wie finstere Riesen stiegen die mächtigen Fichten am Wege auf und streckten ihre schwarzen Arme schauerlich überhin. Das dichte Geflecht ihrer Zweige verbarg jeden Schimmer des Himmels; sie schienen ein ungeheueres Gruftgewölbe zu bauen, das Raum für viele Tausende bot. Vergeblich spähte der Blick, das Ende der Waldung zu ermessen, ob nicht hinter ihrem düstern Reich eine wirtliche Hütte der Menschen sich auftue, um den Ermatteten Rast und Obdach zu bieten. An diesen langsam sterbenden Flämmchen der Hoffnung schleppten sich die Qualbelasteten Schritt vor Schritt weiter, bis die letzten Kräfte versagten. Dann taumelten sie, der Fuß glitt aus auf dem glatten Spiegel der Eisrinde, sie stürzten zusammen oder sanken ermattet in die Knie. Vergeblich streckten sie die Arme noch einmal zu den vorüberschwankenden Unglücksgefährten aus, kein Ohr vernahm mehr die Stimme des flehenden Jammers. Der Winter umschlang seine Opfer mit kalten Armen und hauchte sie mit eisigem Todesatem an; das Blut erstarrte in den Adern, so drang der Tod bis an das Herz; jetzt hatte er es erreicht, es hörte auf zu schlagen, die Marter war geendet, das Haupt sank vorwärts, ein dunkler Blutstrom stürzte aus dem Munde hervor, und mit ihm war die letzte Lebensspur entflohen.
Die Hoffnung, ein Obdach zu gewinnen, wurde endlich von allen aufgegeben; es blieb keine Wahl mehr, man mußte sich der Kälte ohne Schutz und Schirm preisgeben. Viele Scharen machten auf Befehl der Führer halt und richteten sich zum Biwak ein. Bernhard ließ denselben Wunsch laut werden, doch Rasinski munterte ihn auf, den Weg noch eine Zeit fortzusetzen. Gewohnt, dem Führer zu vertrauen, folgten alle seinem Rat. Plötzlich stand Rasinski still. »Jetzt haltet an, meine Freunde,« sprach er, »hier wollen wir Feuer anzuzünden suchen, und sehen, ob wir diese entsetzenvolle Nacht überdauern.«
»Gut denn«, sprach Bernhard so entschlossen er vermochte, um Biankas ersterbenden Mut neu zu beleben. »Wölfe flüchten ja vor den Flammen, laßt sehen, ob dieses Ungetüm, das uns schon die kalten Zähne an die Brust setzt,
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