1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Stimme. Es blieb totenstill in dem ungeheuern Sarge und die Stimme verhallte nachklingend in dem öden Raume. »Lebt hier noch jemand?« wiederholte er den Ruf stärker, denn sein Herz wehrte sich gewaltsam gegen den entsetzlichen Gedanken, daß in diesem grausen Gedränge und Gemisch menschlicher Körper auch nicht ein Funke des Lebens mehr glimmen sollte. Aber es war so, denn als er seine Pistole nahm und einen Schuß hinein über die Häupter der Gelagerten tat, regte sich dennoch niemand, sondern alles blieb still wie in der tiefsten Einsamkeit und Wüste. Unter andern Umständen hätte er sich bei diesem Versuche nicht beruhigt, aber jetzt, wo er selbst und die teuersten Seinigen unmittelbar von den Schrecken der Vernichtung bedrängt wurden, jetzt war selbst sein edles Herz stumpfer geworden, und er wandte sich ab und sprach: »Es ist alles vergeblich! Nur weiter, weiter!« So setzten sie ihren Weg fort in so hastiger Eile, als es irgend möglich war, denn das Verderben folgte ihnen wie ein Raubtier, das nach Beute jagt und sich seines Opfers bemächtigt, sowie es, von Entkräftung übermannt, einen Augenblick Atem zu schöpfen versucht.
Die Straße bedeckte sich jetzt mehr und mehr mit Wandernden, die aus den Wäldern zur Seite oder aus nahegelegenen verlassenen Dörfern zusammenströmten. Bald befand man sich wieder im dichten Gewimmel jener gespenstischen hohläugigen Schreckensgestalten, die der Winter mit grausamem Hohn in die abenteuerlichsten Hüllen getrieben hatte, so daß das Lächerliche sich in die fürchterliche Nähe des Entsetzens gewagt zu haben schien. Jeder Hauch der Lippe erstarrte augenblicklich, daher waren die langen verwilderten Bärte der Krieger, ja selbst Haar und Brauen mit scharfen Reifnadeln besät, die ihnen das Ansehen uralter silberhaariger Greise gaben. Doch mitten unter allen diesen Schrecken blieb die höchste Pein für die so eng verschwisterten und befreundeten Herzen der unselige Zustand Jaromirs, der, in völliger Verworrenheit des Gemüts, zwar äußerlich fast abgestumpft gegen die Qualen war, die alle duldeten, ja sogar oft in wahnsinnigen Scherz und Lachen ausbrach, aber innerlich in stets sich erneuernden Anfällen bald vom tiefsten Jammer, wobei er in lautes Weinen ausbrach, bald von ungebändigter Wut und Verzweiflung ergriffen wurde. In diesen Zuständen des Rasens, die die letzten Lebensbanden plötzlich zu sprengen drohten, kannte er niemand und stieß selbst Rasinski in blinder Wut von sich; die Freunde mußten ihn umringen und halten, damit er nicht Hand an sich selbst legte. Sie taten es, doch reichte ihre Kraft nicht aus, und sie sahen den Augenblick kommen, wo das Schrecklichste geschehen, wo sie den Unglückseligen als ein nicht mehr zu rettendes Opfer den Furien zum Raube überlassen mußten. Zweimal war der Anfall der Wut vorübergegangen; als sie ihn zum dritten Male antrat, packte es ihn fürchterlicher und dauernder als zuvor. Endlich rief Rasinski: »Es ist unmöglich, wir müssen ihn aufgeben; uns bleibt nur die Hoffnung, daß das Übermaß seiner Folter ihr Ende beschleunigen werde.«
Und schon wollten sie ihn loslassen, daß er in ungebändigter Wut fortstürzen könne, da sandte der Himmel einen Engel der Rettung. Es war Bianka! Ihr Herz vermochte es nicht zu überwinden, daß ein solcher Freund dem Verderben überlassen werden sollte, solange der heilige Funke des Lebens in seiner Brust glühte. Weinend und flehend warf sie sich zwischen die Männer und rief: »O nein, gebt ihn nicht auf, rettet ihn oder laßt uns mit ihm verderben!« Dann wandte sie sich zu Jaromir selbst und scheute sich nicht, den Rasenden sanft anzurühren; sie flehte ihn mit einem Tone, dessen fromme Kraft der Bitte selbst in die tiefe Nacht und Verworrenheit des Wahnsinns eindrang: »O sei ruhig! Kehre zu dir zurück, erkenne deine Freunde und sei wieder du selbst!« Jaromir blickte sie, wie aus einem wilden Traume auffahrend, starr an und vergaß plötzlich das Toben gegen die hemmenden Arme der Freunde. Die empörten Wogen seines Wahnsinns ebneten sich, als die holde Gestalt mit mildem Sonnenblick die düster verhüllenden Wolkenschleier seiner Seele teilte. Fromm und gehorsam wie ein Kind hob er die Hände halb gefalten gegen sie empor und sprach mit bebender Stimme: »Ich will dir ja gern folgen, nur laß mich an deiner Seite gehen und verstoße mich nicht wieder!« Sie reichte ihm mitleidsvoll den Arm und entgegnete: »Komm, ich will dich führen.« Und willig ließ
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