1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Heere?« fragte Paul erstaunt. »Also das ist das Heer? Nimmermehr! Es ist unmöglich!«
Jetzt erst entdeckte sich's, daß die Bewohner Wilnas, so geheim hatte der Kaiser sein Unglück zu halten gewußt, noch keine Ahnung von den furchtbaren Geschicken hatten, durch die die Macht des Weltbeherrschers zertrümmert worden war. Starr vor Staunen und Schrecken vernahmen Axinia und ihr Gatte diese Kunde, vernahmen die Schilderung des unermeßlichsten Elends, das jemals über ein Heer gekommen war. Axinia erblaßte und bebte, als sie hörte, daß ihre Gebieterin diese Drangsale und Gefahren geteilt habe. Zitternd warf sie sich vor einem kleinen Muttergottesbilde auf die Knie und brachte unter strömenden Tränen der Heiligen den Dank für die Rettung Feodorownens dar. Nun verdoppelten sich Sorge, Pflege und Liebe auch gegen die ihr noch fremden Begleiter ihrer Gebieterin. Ach, es tat ihrem dankbaren Herzen so wohl, daß sie wenigstens zeigen konnte, wie gern sie die heilige Schuld abtrug, zu der Biankas edle Großmut sie ewig verpflichtet hatte.
Der Lärmen auf der Gasse wurde größer; man sah einzelne jener Unglücklichen, die, Obdach und Erquickung suchend, bis in diese entfernten Gassen eilten. Die ersten wurden aufgenommen; doch als sich mehrere, als sich ganze Trupps zeigten, sperrten die erschreckten Bewohner ihre Häuser. Die Zurückgewiesenen, die im Angesichte der Rettung verderben sollten, da ihre ausgehungerten, ermatteten Körper der furchtbaren Kälte nicht länger widerstehen konnten, erhoben ein gräßliches Geheul und Wutgebrüll. Sie rüttelten die Haustüren, sie drohten Feuer anzulegen.
Paul war unschlüssig, was er tun sollte; sein menschliches Gefühl trieb ihn an, die Unglücklichen aufzunehmen, die Vorsicht gebot, sie zurückzuweisen. Bianka rief entschlossen: »Nehmet auf, was euer Haus vermag! Wir haben das Elend mitgetragen, wir wissen, daß das Erbarmen unerläßlich ist.« Paul wollte hinunter, um den Worten der Gräfin zu gehorchen; doch es war nicht mehr nötig. Nur ein kleiner Trupp hatte sich bis hierher verirrt und Aufnahme gefunden; die andern waren schon auf dem Wege zurück in die Stadt, um dort ihr Heil zu versuchen. Er eilte wieder hinauf zu seinen Gästen und erstattete ihnen Bericht.
Bernhard fragte: »Aber wie ist es möglich, daß jetzt erst diese Leute in die Stadt dringen, daß niemand für sie sorgt, niemand ihre Aufnahme bereitet? Wir würden schon eine halbe Stunde früher hier gewesen sein, hätten wir nicht, um dem Gedränge zu entgehen, den Umweg bis an dieses Tor gemacht.« – »Das ist's ja eben, was das Unheil verursacht«, erwiderte Paul. »Die Masse hat sich in der engen Vorstadt so zusammengedrängt, daß niemand rück- noch vorwärts kann. Das Tor ist verstopft durch Wagen, Pferde und Menschen; nur einzeln ringen sie sich hinein. Aber wer hätte geglaubt, daß dies das Heer sei! Wir hielten es für eine Schar von Marodeurs, die, wie beim Rückzug immer, sich vor dem geordneten Heere hinwälzen und von diesem gedrängt werden. Daher ist auch sogleich in den Magazinen Befehl gegeben, ihnen nichts auszuliefern, und in kein Lazarett dürfen wir sie aufnehmen.« –»Heiliger Gott!« rief Ludwig, »so verderben diese Unglücklichen durch die eigene rasende Fürsorge der Ihrigen! Eilt, eilt! wackerer Freund, eilt in die Stadt zurück, erzählt, daß es das ganze Heer ist, welches in diesem Zustande einrückt, stellt ihnen vor, daß eine Stunde Verzug Tausenden das Leben kosten muß, und werdet so ein gesegneter Retter zahlloser Unglücklichen!« Paul eilte hinweg.
Jetzt fingen die Geretteten an, ernste Besorgnisse um Rasinski und Jaromir zu hegen. Bisher hatten sie geglaubt, sie hätten fast am spätesten ein Obdach gefunden; nun aber zeigte sich's, daß sie zu den Glücklichsten gehörten. Bianka sprach ihre Besorgnisse aus; doch milderte sie dieselben, denn sie fürchtete, Ludwigs und Bernhards Edelmut würde sie bestimmen, trotz ihrer Erschöpfung sich den weichen Armen der rettenden Pflege zu entreißen,,um den Versuch zu machen, Rasinski aufzufinden. Sie hatte sich nicht geirrt, denn wie auf Verabredung sprachen beide plötzlich: »Wir müssen ihn aufsuchen!«
Jetzt überkam Bianka die Angst um ihre Teuersten. »Ist es aber notweudig, könnt ihr ihm Hilfe oder Rettung bringen?« fragte sie. »Oft scheint uns das eine Pflicht, was am schwersten zu üben ist. Wo sollt ihr ihn auffinden in der unbekannten Stadt, in dem Drängen und Treiben der obdachsuchenden
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