1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
ersterbender Stimme; »o laß mich!« Rasinski unterstützte ihre wankenden Schritte; doch mußte Paul erst einige Leichname aus dem Wege räumen, damit man bis zu Jaromirs Strohlager herankommen konnte. Er lag in seinen Mantel dicht eingehüllt; als er das Licht erblickte, richtete er sich empor. Starr, den stillen Wahnsinn im Blick, heftete er das Auge darauf; eine fliegende Fieberglut rötete die abgezehrte, bleiche Wange; er griff mit der Hand der Flamme entgegen. Die entschlossene Gräfin trat grauend einen Schritt zurück. Ist das der Jüngling, fragte es in ihr, der vor wenigen Monaten noch frisch wie der goldene Morgen blühte? Dieses bleiche Gebilde des Grabes?
»Was wollt ihr?« sprach Jaromir langsam mit hohler Stimme. »Was kommt ihr herunter in meine Gruft? Fort mit der Fackel!« Lodoiskas Lippen verschloß der lähmende Schmerz mit unzerreißbaren Banden; selbst die Liebe erstarrte bei dieser entsetzlichen Prüfung und vermochte die Fesseln des Grauens nicht zu sprengen. »Jaromir! Fasse dich! sei ein Mann! Erkenne uns!« redete Rasinski den Unglücklichen an und berührte ihn mit seiner lebenswarmen Hand. Man sah, wie des Jünglings wahnsinnige Betäubung mit dem Bewußtsein, das Rasinskis Anblick in ihm erweckte, rang; es arbeitete in seinen Zügen, sich aus der grauenhaften Umstrickung loszuwinden.
Endlich hatte Lodoiska den Kampf überwunden. Sie kniete zu dem Geliebten nieder, nahm seine Hand, blickte ihm ins Auge und fragte mit brechender Stimme: »Jaromir, erkennst du mich nicht mehr? O, gib mir nur ein Zeichen deiner Liebe!« Er fuhr sich mit der Hand zweimal über die Stirn, als wollte er einen schweren Schmerz oder Druck entfernen; dann leuchtete plötzlich ein flüchtiger Glanz in seinem erloschenen Auge: »Lodoiska!« rief er aus und strebte die Arme zu erheben; doch vergebens, er atmete noch einmal aus tiefster Brust, dann brach der Körper zusammen, das Auge schloß sich, und er sank regungslos auf das Lager zurück. »Hilfreiche Heilige beschirme ihn, er stirbt!« rief Lodoiska und rang die Hände.
»Nein, nur die Freude hat ihn überwältigt«, tröstete sie Rasinski. »Laßt uns seine Ohnmacht benutzen, um ihn von diesem Ort des Grausens zu entfernen. Freund, es wird eine Zeit der Vergeltung kommen«, wandte er sich zu Paul. »Aber jetzt leiht mir noch euern Beistand; helft mir den Unglücklichen bis in euere Wohnung bringen. Hier muß ihn der Tod hinwegraffen.«
Der redliche Paul war freudig bereit. »Gern, gern,« rief er, »und es wird sich leicht machen. Auf dem Gange stehen Krankenbahren und in meinem Hause ist ja wohl noch ein Plätzchen offen.« Sie legten sogleich Hand an und trugen den Ohnmächtigen hinaus. Lodoiska schwankte am Arme der Mutter nach. Rüstig griffen Paul und Rasinski selbst die Bahre an; die Frauen trugen Sorge, den Kranken vorsichtig einzuhüllen. Lodoiska fand Kraft und Fassung in sich, als die Liebe jetzt Pflichten von ihr forderte. Sorgsam wachend ging sie neben der Bahre und geleitete so den sterbenden Freund bis an die gastliche Stätte, wo so viele befreundete Gestalten statt jener Bilder des Entsetzens sein Lager umgaben.
Bald hatte man Pauls Wohnung erreicht; mit stummer Trauer empfingen die treuen Gefährten den bejammernswerten Freund, und pflegend und wachend, wie Engel des Heils und Erbarmens, setzten sich Marie und Lodoiska an der Bahre nieder, um die Nacht hindurch seiner zu warten. Er lag in unruhigem Halbschlaf und sprach oft in seiner Fieberverwirrung. Lodoiskas und Biankas Namen nannte er am häufigsten. Einmal rief er: »Alisette, Alisette – fort, fort, du schöne Schlange!«
Mit welchem Gefühl hörte die liebende Lodoiska diesen Namen! Sie hatte ihm so rein, so völlig vergeben – sie vergab auch der Verführerin! O wenn sie es vermocht hätte, ihm diesen Trost in die von glühenden Qualen gefolterte Brust zu flößen! Marie war, übermüdet, in einem Lehnsessel in Schlummer gesunken. Tiefe Nacht und Einsamkeit umgab die Liebende jetzt. Welch ein Augenblick der Seligkeit, wenn die furchtbar gähnende Kluft sie nicht von ihm getrennt hätte, die sich unübersteiglich wie das Totenreich auftut, sowie das Band des hellen Bewußtseins zerreißt. Nur im heißen Gebet fand Lodoiska Hoffnung und Trost. Sie kniete nieder und wandte Herz und Antlitz zum Himmel und flehte aus inbrünstiger Seele: »O Allgütiger, nur noch einmal laß das helle Licht der Wahrheit in sein Herz fallen! Führe seine Seele noch einmal zurück auf diese Erde, so
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