1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
Schätze. Sie ließ sich also von den Geschehnissen der letzten Tage nicht unterkriegen!
Mit einem stillen Lächeln führte er sie in die Bibliothek, ging zu dem Sekretär, der in dem dunklen, von Tabakgeruch durchzogenen Raum stand, und öffnete ein Geheimfach.
Noch vor kurzem waren hier zwei geheime Schriften verborgen gewesen, die sie gemeinsam gelesen hatten: die anonym verfasste Abhandlung über den Volksaufstand in Spanien, der seit fünf Jahren loderte, ohne dass die Franzosen Herr der Lage werden konnten, obwohl sie eine Viertelmillion Soldaten dorthin geschickt hatten, und Elgers Bericht über die von den Franzosen angewiesene Verbrennung konfiszierter englischer Waren Ende 1810 in Leipzig. Die war wie eine Hinrichtung inszeniert worden. Zur Strafe für ihren Handel mit Frankreichs Erzfeind mussten die Leipziger eine Woche lang zusehen, wie ein Vermögen – ihr Vermögen! – sinnlos in Flammen aufging.
Der Verfasser des Berichts wurde zu Festungshaft auf den Königsstein geschickt. Beide Schriften hatte Gerlach vor ein paar Tagen wegen der befürchteten Rückkehr der Franzosen unter den Dielenbrettern versteckt.
Nun holte er aus dem Fach ein abgegriffenes Blatt Papier heraus. »Hier – Blüchers Proklamation an das sächsische Volk!«
Mit triumphierender Miene reichte er Jette das Blatt, das beim Einzug der Russen und Preußen in Freiberg verteilt worden war.
Atemlos vor Spannung las das Mädchen. »Sachsen! Wir betreten Euer Gebiet, Euch die brüderliche Hand bietend … Wir bringen Euch die Morgenröte eines neuen Tages … Ihr seid ein edles, aufgeklärtes Volk! Ihr wisst, dass ohne Unabhängigkeit alle Güter des Lebens für edel gesinnte Gemüter keinen Wert haben, dass Unterjochung die höchste Schmach sei … Auf! Vereinigt Euch mit uns, erhebt die Fahne des Aufstandes gegen die fremden Unterdrücker und seid frei! … Den Freund deutscher Unabhängigkeit werden wir als unseren Bruder betrachten …«
Hingerissen von der Klarheit und Kühnheit dieser Worte sah Henriette ihrem Onkel ins Gesicht.
»Gneisenau soll das verfasst haben«, erklärte dieser.
Erneut sah das Mädchen auf das zerknitterte und sorgfältig wieder glatt gestrichene Blatt.
Fasziniert las Jette die Zeilen. So einfach, so klar, so kühn!
»Ich dachte, ich könnte nie wieder schreiben«, versuchte sie mühsam in Worte zu fassen, was sie bewegte. »Wie sollte ich Verse schmieden im Krieg? In Pathos schwelgen wie Arndt, während ringsum alles in Not und Tod versinkt? Aber das hier … Das kommt aus dem Herzen und geht zu Herzen.«
»Lies weiter!«, forderte der Oheim sie auf.
»Euer Landesherr ist in fremder Gewalt; die Freiheit des Entschlusses ist ihm genommen …«
»Der König ist in Sicherheit in Prag, von seinen Garden geschützt«, antwortete Friedrich Gerlach, ehe sie fragen konnte.
»Den Freund deutscher Unabhängigkeit werden wir als unsern Bruder betrachten, den irregeleiteten Schwachsinnigen mit Milde auf die rechte Bahn leiten, den ehrlosen, verworfenen Handlanger fremder Tyrannei aber als einen Verräter am Vaterland unerbittlich verfolgen.«
Sie hatte es kaum zu Ende gelesen, als der Onkel ihr ein zweites Blatt reichte. »Und das hat Wittgenstein, der Oberbefehlshaber der russischen Armee, verteilen lassen. Aber es klingt ganz danach, als hätte es Ernst Moritz Arndt geschrieben.«
Schon beim Überfliegen der Zeilen erlosch ihre Begeisterung für Arndt schlagartig. »Wer nicht mit der Freiheit ist, der ist gegen sie. Darum wählt! Meinen brüderlichen Gruß oder mein Schwert!«, las sie den Schluss laut vor. »Sie drohen uns, beleidigen den König …«
»Ich fürchte auch, dass sie der Sache damit keinen Gefallen getan haben«, meinte der Oheim bedauernd. »Nun hängt alles davon ab, wie der König entscheidet: Ob er sich weiter an den Eid gebunden sieht, mit dem er Napoleon Bündnistreue schwor, oder einen freien Entschluss fasst. Aber angesichts dessen« – er wies auf die zweite Proklamation – »wird er sich durch Wittgenstein genötigt fühlen und sich gerade deshalb verweigern. Die Sachsen sind königstreu durch und durch. Sie werden ihrem König folgen. Ganz gleich, wohin.«
»Jette, Liebes!« Zuckersüß drang Tante Johannas Stimme in das Refugium ihres Mannes, dann stand sie schon in der Tür. »Geh doch in die Stube, damit wir dir eines meiner Kleider abstecken. Nelli wartet dort schon auf dich, ich komme gleich nach …«
Gehorsam, wenn auch ungern, gab Jette die beiden
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