1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
geräuschvoll in ein kariertes Taschentuch und ließ hilflos die Schultern hängen. Sogar die Enden seines Schnurrbarts hingen traurig herab. Jetzt waren ihm von all seinen Kindern nur noch der Krüppel und der Zwerg geblieben.
Mürrisch wies er mit dem Kopf auf eine Gruppe Grenadiere, die auf dem Untermarkt exerzierten. »Requirieren die Pferde?«
Bisher hatte er mit viel Glück und auch dank Gerlachs Fürsprache seine zwei Pferde und den Karren über die Kriegszeiten retten können, auch wenn er immer wieder zu schlecht oder gar nicht bezahlten Spanndiensten fürs Militär verpflichtet wurde. Lieber ging er jedes Mal mit, wie jetzt auch, statt das Gespann einfach herzugeben und vielleicht nie wiederzusehen. Aber das konnte sich mit jedem Tag ändern. Die Armeen hatten auf den Märschen und in den Schlachten nicht nur große Verluste an Menschen, sondern auch an Pferden und Fuhrwerken.
»Im Moment nicht, das wurde uns versichert«, sagte Friedrich Gerlach zu Josefs Erleichterung. »Aber der Rat sucht dringend Fuhrwerke, um Proviant heranzuschaffen. Wenn Sie können, Herr Tröger … Wenn Sie Ihre Frau jetzt allein lassen können, dann gehen Sie ins Rathaus und bieten Sie dort Hilfe an. Wir kümmern uns hier um Ihre Lisbeth, das verspreche ich.«
Josef Tröger brummte etwas, rief seinen beiden verbliebenen Söhnen ein paar Ermahnungen zu und stapfte Richtung Kreuzgasse davon, um zum Rathaus zu gehen.
»Hast du gehört? Unsere Brüder sind alle tot. Die Russen haben sie umgebracht! Das zahlen wir denen heim!«, zischte Karl. Schließlich war er nun der älteste Sohn der Familie, da musste er etwas unternehmen!
»Wie denn? Die Russen sind fort«, erwiderte Anton und ließ die Bürste sinken, mit der er das ausdauerndste Pferd seines Vaters striegelte.
»Auf der Flucht, aber noch nicht geschlagen«, widersprach Karl. »Ich melde mich freiwillig. Jetzt sind sie bestimmt nicht mehr wählerisch mit den Rekruten. Ich werde ihnen schon zeigen, dass ich so schnell sein kann wie jemand mit zwei gesunden Beinen. Russen und Preußen sind unsere Feinde.«
»Mutter schlägt dich tot, wenn du ihr das erzählst!«, wandte der Jüngere ein und biss sich auf die Unterlippe. »Denkst du, sie lässt dich gehen, nachdem schon der Claus, der Wilhelm, der Fritz und der Paul begraben sind?«
Er musste mit den Tränen kämpfen, wenn er sich vorstellte, dass alle seine Brüder außer Karl tot waren. Sie hatten mit ihm als Jüngstem zwar oft derbe Späße getrieben, aber ihm auch jede Menge beigebracht. Miteinander gelacht hatten sie und gemeinsam Unfug angestellt.
Und wie großartig sie in ihren Uniformen aussahen, wie stolz sie gewesen waren, zur Reitenden Artillerie zu gehören! Es wollte ihm einfach nicht in den Kopf, dass alle vier nicht mehr lebten, nie wieder lachen und mit ihm scherzen würden. Er würde sich von ihnen sogar noch einmal verprügeln lassen, wenn sie nur wiederkämen!
Schniefend fuhr er sich mit dem Ärmel übers Gesicht.
Vielleicht sollten Karl und er jetzt zu ihrer Mutter gehen und sie trösten. Andererseits – Mutter würde bestimmt weinen, und das könnte er nicht ertragen. Ihm war ja selbst ganz elend zumute. Und wer tröstete ihn?
»Das dürfen wir ihr nicht verraten!«, schärfte Karl ihm ein. »Du kannst ruhig mitkommen. Für die Infanterie bist du noch zu klein, aber hast du auf dem Obermarkt die Jungs gesehen, die die Trommeln schlagen? Da waren welche dabei, die sind sicher noch nicht zehn. Ich höre mich in den nächsten Tagen um. Und wir müssen noch mehr Zeit mit den Soldaten auf dem Dachboden verbringen. Statt zu würfeln, sollen sie uns alles beibringen: die Kommandos, die Trommelsignale, wie man ein Gewehr lädt … Fort können wir erst, wenn die Alma gefohlt hat, dabei kann ich Vater nicht allein lassen. Aber dann melde ich mich zur Reitenden Artillerie, und du wirst Trommler!«
Das klang für Anton weitaus verlockender, als hier herumzuhocken, den Stall auszumisten und seine trauernden und sicher bald wieder streitenden Eltern um sich zu haben. Er wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und begann, sich sein Leben als Trommler in der Grande Armée auszumalen, mit einer Uniform in leuchtenden Farben … So wie die Musiker auf dem Markt.
Ja, sein Bruder hatte recht, in Napoleons mächtiger Armee konnten sie es den Russen heimzahlen und seine Brüder rächen!
Kaum war er mit dem Striegeln fertig, rannte er die Treppe hoch in die Küche seiner Familie, kniete sich auf einen
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