1815 - Die Wiege des Teufels
fiel ihm nicht leicht. Hingehen, die rote Decke anheben, einen Blick in die Wiege werfen, das war es doch, auch war es kein Risiko, hoffte er zumindest.
Ja, und dann gab er sich den Ruck.
Er trat noch näher an die Wiege heran, so nah, dass er sie berührte. Jetzt war das Nächste kein Problem mehr, sollte es nicht sein, aber auch da bekam er Probleme.
Er beugte sich nicht vor, um nach der Decke zu greifen. Er trat an die von ihm aus gesehen rechte Seite der Wiege heran und blieb dicht vor dem Vorhang stehen.
Er warf dann einen Blick in die Wiege.
Sein Herz schlug schneller – und normalisierte sich wieder, als er sah, dass die Wiege leer war. Es lag kein Kind darin, aber auch kein kleines Monstrum, das von einem Ungeheuer abstammte. Die alte Wiege war einfach nur leer, wie es sich gehörte.
Er war zufrieden.
Nein, nur teilweise. Er war nicht ganz zufrieden. Hier stimmte etwas nicht, denn es musste jemanden geben, der die Wiege an ihren Platz gestellt hatte.
Warum war das geschehen? Was steckte dahinter? Er wusste es nicht, aber es geschah nichts ohne Grund. Dieser andere oder Fremde musste sich etwas dabei gedacht haben.
Der ehemalige Pfarrer konnte sich keinen Menschen vorstellen, der so etwas tat.
Und doch war es geschehen.
Warum?
Diese Frage konnte er sich Hunderte Male durch den Kopf gehen lassen, er würde keine Antwort bekommen. Die Wiege war leer. Davon wollte er sich noch richtig überzeugen und hatte jetzt den Mut, die Decke anzuheben, um zu erkennen, ob sich nicht etwas darunter verbarg.
Nein, da war nichts.
Er atmete auf.
Und erst jetzt war er richtig froh, sich mit den Polizisten verabredet zu haben. Er kannte sie nur vom Foto her, und er würde sie jetzt im Original sehen. Das musste für ihn super sein.
Eigentlich konnten sie nicht mehr so lange brauchen, um das Ziel zu erreichen. Martin Norwood hatte vor, sie draußen zu begrüßen. Er würde vor der Kirche auf sie warten.
Er schaute noch mal hin, war zufrieden, nickte, drehte sich um – und erstarrte.
Vor ihm stand ein fremder Mann!
***
Martin Norwood hatte ihn nicht gehört. Hätte er den Arm ausgestreckt, er hätte ihn berühren können. Das tat er nicht, das traute er sich nicht, denn er spürte eine bestimmte Aura, die von diesem Mann ausging.
Er war groß, auch recht hager. Der dunkle Hut auf seinem Kopf fiel auf, ebenso wie die dunkle Kleidung, wobei die Jacke von der Länge her fast einem Mantel glich.
Und dann gab es noch ein Gesicht. Aber was für eines. Ein blasses, eine Haut, die dünn und zugleich aufgequollen wirkte. Um die Augen zu sehen, musste man schon genau hinschauen, denn sie lagen tief in den Höhlen.
Erst allmählich beruhigte sich der Herzschlag des ehemaligen Pfarrers. Er schaffte es dann, eine Frage zu stellen.
»Wer sind Sie?«
Der Mund des Mannes verzog sich zu einem Lächeln. »Ich bin etwas Besonderes. Ich habe die Wiege wieder zurückgebracht.«
»Ja, das sehe ich. Und warum?«
»Weil ich sie brauche.«
»Ach ja? Wofür?«
Der Mann spitzte die Lippen. »Sie gehört doch hierher. Oder nicht?«
»Gehörte!«, berichtigte Martin Norwood. »Das ist jetzt vorbei, wenn Sie verstehen.«
»Ach ja?«
»Genau.«
»Das sehe ich nicht so.«
Der ehemalige Pfarrer schnappte nach Luft. Plötzlich regte sich in seinem Innern der Widerstand. Er stand hier in seiner Kirche, das sah er noch immer so, und er hasste es, sich von Fremden Befehle erteilen zu lassen.
»Wie heißen Sie eigentlich?«
»Blake.«
»Wie?«
»Justus Blake, um genau zu sein.«
»Gut, das habe ich begriffen. Und was haben Sie hier verloren?«
»Ich habe die Wiege gebracht.«
»Und warum?«
Blake lächelte kalt. »Die Antwort ist ganz einfach. Weil ich der Taufpate bin.«
Jetzt sagte Norwood nichts mehr. Mit einer derartigen Antwort hatte er nicht gerechnet. Dieser Mensch bezeichnete sich als Taufpate.
»Für wen Pate?«
Blake schüttelte den Kopf. »Meine Güte, fragen Sie doch nicht so dumm. Für einen Täufling natürlich.«
»Aha. Dann soll also jemand hier getauft werden?«
»Genau.«
Norwood fragte noch mal nach. »Hier in dieser Kirche und auch hier in der Wiege?«
»Wo sonst?«
Der ehemalige Pfarrer sagte nichts mehr. Eigentlich hätte er lachen müssen, aber das schaffte er nicht. Das Lachen blieb ihm im Hals stecken. Die Lage war einfach zu ernst. Das Erscheinen dieser Gestalt war alles andere als ein Scherz.
»Warum sagen Sie nichts mehr?«
»Weil ich – ähm – es nicht fassen kann, was Sie sagen. Das
Weitere Kostenlose Bücher