1846 - Kreise
Tage, die stets ein quälendes Gefühl der Leere hinterließen. Egal, ob sie einen solchen Tag im Bett verbrachte oder versuchte, sich in Hektik zu ertränken - das Ergebnis war immer dasselbe: Verbitterung und Leere.
Dindra Clandor starrte ihr Spiegelbild an und hatte das Gefühl, einer Fremden gegenüberzustehen. Das einzige, was ihr vertraut erschien, war die verkrustete Wunde unter dem linken Wangenknochen.
Minutenlang stand sie unschlüssig dieser fremden Frau gegenüber, danach begann sie, mit dem Lippenstift undefinierbare Zeichen auf die Spiegelfläche zu kritzeln. Sie konnte nicht anders. Es war ein unwiderstehlicher Zwang, der ihre Hand führte, der sie dazu brachte, schwarze Spiralen und Zacken zu malen.
So war es gestern schon gewesen, als sie begonnen hatte, die Wohnung umzukrempeln; vorgestern ebenfalls.
Aber jedesmal wurde der innere Zwang stärker.
Der Lippenstift brach ab, spritzte hinüber ins Feld der Vibrationsdusche. Dindra schleuderte den unbrauchbar gewordenen Rest hinterher.
Sie suchte Vollkommenheit, doch was sie auf den Spiegel geschmiert hatte, war weit davon entfernt.
Beinahe wartete Dinnie Clandor darauf, daß sie für ihr Versagen bestraft wurde, daß dieses gräßliche Prickeln in ihren Gliedmaßen von neuem begann. Von den Händen ausgehend, zog es sich durch ihre Adern, zwang sie, die Schultern zusammenzuziehen, und dann bekam sie kaum noch Luft. Als hätte sich ein dicker Terkonitstahlring um ihren Brustkorb gelegt.
Hektisch wischte sie mit den Fingern über die Kritzeleien, verschmierte sie quer über den Spiegel.
Nichts Brauchbares.
Ihr Spiegelbild blickte sie in tausend verzerrten Streifen an.
Das war zuviel. Dindra Clandor riß die Hände hoch, verkrampfte die Finger um die Schläfen und begann hemmungslos zu schluchzen.
*
Ein hartnäckiges Summen fraß sich in ihre Gedanken. Es wiederholte sich unaufhörlich, bis Dindra begriff, daß jemand draußen auf dem Korridor stand und den Türmelder betätigte. Sie erwartete niemanden.
In der Sanitärzelle gab es keine Bildübertragung. Mühsam unterdrückte Dindra das Schluchzen, das immer noch in ihr aufstieg. Mit dem Handrücken wischte sie sich fahrig übers Gesicht.
Das Summen wurde drängender. Wer immer draußen wartete, dachte nicht daran, sich rasch geschlagen zu geben.
„Schau nach, Illie!"Keine Reaktion. „Illie! Hörst du schwer?"
Das Mädchen antwortete nicht, war wohl nach wie vor damit beschäftigt, die ideale Aufstellung ihrer Würfel und des anderen Spielzeugs zu finden.
Dindra stieß einen unwilligen Laut aus, bevor sie die Sanitärzelle verließ. Noch halb benommen, forderte sie den Servo auf, ihr den Besucher zu zeigen. Von der Trividwand lächelte im nächsten Moment das überdimensional wiedergegebene Gesicht Sybil Moltrans’ herab. Sybil kaute nervös auf ihrer Unterlippe.
Siedendheiß kam Dindra die Erinnerung. Sie waren verabredet.
„Servo, laß Sybil ein!"
Das Lächeln auf Sybil Moltrans’ Lippen gefror von einem Moment zum anderen. Auf ihrer Stirn erschienen zwei steile, mißbilligende Falten.
„Wie siehst du aus, Dinnie?" platzte sie heraus. „Ist dir nicht gut?"
„Nichts, es ist nichts", antwortete Dindra schnell. Vergeblich fuhr sie sich mit dem Arm übers Gesicht, verwischte die Farbschmierer, nur weiter.
„So wird das nichts. Warte, ich mach’ dir das weg." Sybil hatte ihre erste Überraschung schon überwunden. Mit einem Kosmetiktuch begann sie, über Dindras Stirn zu rubbeln. „Das ist Lippenstift, nicht wahr?" Sie verzog die Mundwinkel zu einem flüchtigen Grinsen. „Sieht aus wie die Kriegsbemalung einer rückständigen Zivilisation. Du hast Krach mit Ronald? - Na ja, keine Antwort ist auch eine Antwort. - Halt still! Wenn ich dir das schon abputze, dann lauf nicht auch noch davon."
Sybil half mit etwas Spucke nach.
„Besser krieg’ ich’s nicht hin." Sie betrachtete ihr Werk mit dem Blick eines Schmetterlingssammlers, der soeben ein bislang unbekanntes Exemplar aufgespießt hatte. „Wenn unsere Töchter sich so angemalt hätten, würde ich es ja noch verstehen. Apropos, weißt du endlich, wohin Jack verschwunden ist?" Sie zuckte mit den Achseln, als Dindra die Stirn fragend in Falten legte. „Dann eben nicht", murmelte sie. „Ich dachte nur, du machst dir Sorgen. Der Junge kann sich nicht in Luft aufgelöst haben. Ted meint auch, daß es sinnvoll wäre, die Behörden zu informieren. Aber das ist eure Sache. Natürlich."
Dindras Miene hatte sich
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