1846 - Kreise
schöner wurden sie. Und runder. Mit jedem Kreis wuchs das Glücksgefühl. Kreise symbolisierten Geborgenheit, sie besaßen keinen Anfang und kein Ende, waren wie der Kosmos, der sich unendlich weit ausdehnte.
Erst als seine Schulter von der monotonen Bewegung zu schmerzen begann, wurde Ron langsamer.
Zufrieden betrachtete er sein Werk: Hunderte der herrlichsten Kreise, die das Universum kannte. Er war plötzlich nicht mehr allein, fühlte seine Aufgabe, die Zugehörigkeit zu etwas sehr Großem und Bedeutungsvollem. Er hatte es geschafft, war einer der ersten, die den Kreis gefunden hatten. Er hatte allen Grund, stolz zu sein.
„Servo", stieß er schwer atmend hervor, „ich will Kreise sehen. Viele Kreise auf der Trividwand."
Das Muster wurde atemberaubend schön. Die Kreativität des Haushaltssyntrons ließ unglaublich viele Variationen entstehen, ein Meer aus Farben, aus denen flammende Kreise geboren wurden Kreise, die wuchsen oder schrumpften, die pulsierten und zu eigenem Leben zu erwachen schienen.
Der Kreis ist Leben! durchzuckte es Ron.
Er konnte die Augen nicht mehr offenhalten. Vergeblich kämpfte er gegen die Erschöpfung an, die alles vor ihm verschwimmen ließ.
Sekunden später schlief er bereits tief und fest. Er träumte von einem Universum voller Kreise.
*
Eine unangenehme, klamme Nässe begann sich über ihren Körper auszubreiten. Übergangslos schlug Dindra Clandor die Augen auf.
Von den Blättern über ihr tropfte der Regen.
Regen? Sie verstand gar nichts. Vergeblich versuchte sie sich zu entsinnen, was geschehen war. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, nicht einen einzigen vermochte sie festzuhalten.
Der Regen wurde heftiger. Abrupt richtete sie sich halb auf. Der Boden unter ihr, das erkannte sie in dem Moment, war künstliches Substrat. Die Pflanzen ringsum gehörten demnach zu einem der Parks im Silo.
Die Dämmerung, die kaum weiter als zehn Meter sehen ließ - nachempfundene Umweltbedingungen. Der Regen künstliche Bewässerung, morgens zwischen vier und fünf.
Ihr war übel. Ein gräßlicher Schmerz schien ihre Schädeldecke sprengen zu wollen.
Schwerfällig kam Dindra auf die Beine. Das Haar hing ihr wirr in die Stirn, ihr Kleid klebte am Körper.
Sie trat auf eine leere Dose. Farbe! Allmählich kehrte die Erinnerung zurück. Eine unangenehme Erinnerung. Dindra stöhnte gequält, als Joshs bärtiges Gesicht sie herausfordernd anzugrinsen schien.
„Nein", kam es tonlos über ihre Lippen. „Laß mich in Frieden!"
Sie torkelte weiter. Äste peitschten ihr ins Gesicht, und jede Berührung war wie ein Stromstoß, der ihr immer deutlicher werden ließ, was sie getan hatte. Sie haßte sich dafür.
Ihre Schritte knirschten über den Kies eines Weges. Vor ihr durchschnitt ein kleiner Wasserlauf das Parkgelände, eine hölzerne Brücke führte darüber hinweg.
Auf der Brücke hielt sie inne, ihre Finger verkrampften sich um das Geländer. Schwer atmend starrte sie ins Wasser, das so klar war wie ein Spiegel. Das wirre, triefend nasse Haar, die Farbflecken im Gesicht - das alles konnte nur ein böser Traum sein, aus dem sie hoffentlich bald aufwachte. So schlecht hatte sie nie geträumt.
Vergeblich versuchte sie, ihren hastigen Atem zu beruhigen. Sie war aufgeregt, innerlich aufgewühlt.
Vor ihrem inneren Auge wirbelte bunte Graffiti vorbei, grelle Muster, die sie auf Wände und in Antigravschächte gesprüht hatte. Das hatte ihr vorübergehend Erleichterung verschafft.
Mit der Schuhspitze zeichnete sie ein Dreieck auf die Holzbohlen der Brücke. Gleich darauf eine unruhige Wellenlinie.
„Sucht nicht jeder auf seine Weise das Ziel seines Lebens?" murmelte sie sinnend.
Für eine kurze Zeitspanne hatte sie geglaubt, ihr Ziel gefunden zu haben. Wie ein Rausch war es gewesen, ein schriller Reigen.
Ihr Blick verharrte auf dem Armbandchronometer. Unerbittlich zeigte ihr die Skala, daß sie nicht nur geträumt hatte. Einen ganzen Tag lang und eine Nacht hatte sie geglaubt, glücklich zu sein - ein Irrtum.
Mit den Fingernägeln ritzte sie einen Stern in das Brückengeländer. Beim zweiten Versuch brach ein Nagel ab. Dindra stöhnte unterdrückt.
Die Erinnerung an den Bärtigen quälte ‘sie. Er hatte sie teilhaben lassen an seiner Suche, hatte ihr geholfen, auf ihrem eigenen Weg voranzukommen. Er hatte all das getan, wozu Ron niemals fähig gewesen wäre. Ron war viel zu nüchtern, was wußte er schon von der Faszination der Suche?
Dindra hastete weiter, getrieben
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