1851 - In die TraumsphÀre
alles andere. Sie versteht es, einen Vorteil zu erkennen und zu nutzen, selbst wenn sie dabei sich selbst in den Hintergrund stellen muß. Sie ist eine große und weise Frau, bei allen Fehlern, die sie haben mag."
„Das scheint mir auch so", meinte Mila. „Ich kann mich noch sehr gut an ihr Ultimatum damals erinnern, an ihr Auftreten. Dieses Bild paßt so gar nicht zu ihrer heutigen Friedfertigkeit."
„Oh, sie lehnt die Terraner nach wie vor ab. Aber in erster Linie denkt sie an unser Volk. Ihr damaliges Verhalten kam unter anderem daher, daß sie Angst vor dem Verlust unserer Identität hatte. Das Gebaren der Terraner stößt sie ab."
Die Schwestern sahen sich an; so unrecht hatte die Oberste Künderin damit nicht. Die Menschen gingen selbst beim Erstkontakt nicht gerade zimperlich oder einfühlsam vor, sie kehrten ihr Selbstbewußtsein recht deutlich heraus.
„Du sagtest, ihr gewöhnt euch allmählich an den Tagund-Nacht-Wechsel", lenkte Nadja auf ein anderes, weniger unangenehmes Thema. „Wie steht es mit allem übrigen?"
„Wir haben noch keinen Zyklus gehabt, wenn du das meinst", lautete die Antwort. „Doch stehen im Augenblick auch die äußeren Umstände dagegen. Um einen Zyklus zu bekommen, müssen wir ausgeglichen sein und nicht geistig überfordert, wie es derzeit hier bei den ständigen Gebeten geschieht. Unsere Beeinflussung, das Gefühl der Bedrohung überzieht die ganze Welt; ich bin mir sicher, daß ausnahmslos jeder Herreach nach wie vor von Alpträumen geplagt wird. Das wirkt sich auch in den kleinen Gebetsrunden aus.
Nicht umsonst strömen die besonders begabten Herreach aus allen Winkeln der Welt hierher, um uns bei der Manifestation des Riesen Schimbaa zu helfen."
„Ihr braucht mindestens fünftausend gut ausgebildete Beter für seine Erschaffung, nicht wahr?"
„Ja, aber wir sind jetzt bereits mehr als doppelt so viele. Und trotzdem ist das Fremde noch stärker als wir, sein Widerstand ist beträchtlich. Deswegen bin ich sehr froh, daß ihr nun hier seid."
„Hoffentlich können wir auch entsprechend helfen."
„Oh, da bin ich sicher." Caljono Yai zögerte einen Moment, ehe sie fortfuhr: „Ich habe in den vergangenen Perioden - Verzeihung, Wochen - viel an euch gedacht. Es ist nicht nur euer besonderes Talent, sondern auch - eure Herkunft."
„Unsere Herkunft? Wie meinst du das?"
„Nun - wie ist das so, zweimal zu existieren? Bei uns gibt es keine Zwillingsgeburten. Und es ist für uns unvorstellbar, daß zwei Wesen ständig zusammen sind, miteinander leben und alles teilen. Erzählt mir davon."
Die Schwestern lachten. „Oh, so etwas Besonderes ist das gar nicht."
„Ich finde, schon. Zumindest dürfte es auch bei euch Menschen nicht so häufig vorkommen, denn von allen, die wir bisher kennengelernt haben, seid ihr die einzigen. Und außerdem ... ihr seht so gleich aus. Wir haben inzwischen gelernt, euch Menschen äußerlich zu unterscheiden, doch ihr beide ... seid jeder wie der Spiegel des anderen. Liegt darin eure Gabe begründet?"
„Ja, das ist wahr", antwortete Mila. „Aber das ist es nicht allein. Wir sind tatsächlich einander sehr eng verbunden. So nahe wie wir beide können Menschen einander normalerweise nicht sein. Das ist manchmal nicht ganz leicht, denn wir haben oft auch dieselben Gedanken. Einmal allein für sich zu sein ist fast unmöglich."
„Habt ihr solch ein Bedürfnis?"
„Hin und wieder. Unsere Gefühle sind nicht leicht zu erklären. Sie sind oft widersprüchlich."
„Dadurch also ist euer Verhalten wohl oft unberechenbar und für uns nicht verständlich."
Caljono Yai plusterte ihr Nas-Organ auf, und es zitterte leicht an den Enden. Es bedeutete möglicherweise, daß sie amüsiert war.
„Um das zu verstehen, muß ich erst noch viel lernen", sagte sie langsam. „Wir Herreach kennen uns mit vielen Gefühlen nicht besonders gut aus; wir entdecken sie gerade erst. Ihr Menschen seid äußerst emotional, das konnten wir beobachten und ebenso, daß ihr damit häufig nicht zurechtkommt. Verstehe ich das also richtig, daß ihr das Gefühl, jeder des anderen Spiegel zu sein, nicht mit Worten ausdrücken könnt, weil ihr es selbst nicht begreift?"
„So kann man das sehen. Manche Fragen lassen sich nicht so einfach und wissenschaftlich beantworten."
Caljono Yai dachte eine Weile nach. „Ich hoffe, ich belästige euch nicht durch meine vielen Fragen, aber ich versuche zu verstehen, was um uns herum vorgeht - und wie wir uns verändern. So etwas wie
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