186 - Seelenjagd
eintreten.
»Ich habe vor 20 Minuten angerufen«, sagte Hawn, »aber da waren Sie anscheinend nicht zu Hause.«
»Das ist richtig. Man wollte meine Meinung in einer Dopingangelegenheit hören. Ich habe kein Blatt vor den Mund genommen.«
»Sie nehmen es mit der Ehrlichkeit sehr genau, das schätze ich an Ihnen, Doc.«
Doc Farmer begab sich mit dem Boxer nicht ins Behandlungszimmer, sondern in den Living-room. »Setz dich«, sagte er und machte eine einladende Handbewegung. »Möchtest du etwas trinken?«
»Apfelsinensaft.«
»Darf es ausnahmsweise mal etwas Stärkeres sein?«
Bist du der Meinung, daß ich es brauchen werde? dachte »Big Punch«. »Ich mache mir nichts aus Alkohol«, sagte er.
»Ein kleiner Bourbon wird dich nicht flachlegen«, meinte der Arzt und füllte zwei Gläser.
»Big Punch« versuchte in Doc Farmers Benehmen eine Veränderung festzustellen. War der Sportarzt heute anders als sonst zu ihm? Er glaubte, eine gewisse Nervosität bei Doc Farmer feststellen zu können.
Den Mann schien etwas zu belasten. Er mußte wissen, weshalb ihn »Big Punch« aufgesucht hatte, aber er sprach über etwas ganz anderes. »Ich verabscheue Doping in jeder Form«, sagte er. »Du warst in dieser Hinsicht ja immer sauber, das kann man dir gar nicht hoch genug anrechnen.«
Hawn lächelte nervös. »Ich hatte es nicht nötig, irgend etwas Verbotenes zu schlucken. Mein Punch war gefürchtet -ist es noch.«
»Diese Idioten wissen gar nicht, was sie ihrem Körper antun, wenn sie bedenkenlos all das Zeug einwerfen. Diese Leute begreifen nicht, daß die Gesundheit das höchste Gut eines Menschen ist.«
»Big Punch« nahm einen Schluck vom Bourbon. Seine Hand zitterte. Gesundheit - das war das Stichwort. Darauf hätte er reagieren müssen, doch plötzlich verließ ihn der Mut.
Wenn Calarb recht hatte…
»Für manchen kommt die Reue zu spät«, fuhr Doc Farmer fort. »Aber einige bekommen die Rechnung für ihre Sünden nie präsentiert, und ich muß gestehen, daß ich das ein wenig ungerecht finde. Sie trinken, rauchen, werfen Anabolika ein, führen ein ganz und gar unsportliches Lotterleben und werden 70, 80 Jahre alt, während es einem anderen, der stets auf seinen Körper geachtet hat und immer auf seine Gesundheit bedacht war, nicht einmal gegönnt ist, halb so alt zu werden.«
Er meint mich! durchzuckte es den Boxer, und es lief ihm eiskalt über den Rücken.
»Big Punch« fand, daß sie lange genug um den heißen Brei herumgeredet hatten. Es fiel ihm sehr schwer, die entscheidende Frage zu stellen, aber es mußte sein. Er war deswegen hier und mußte endlich Gewißheit haben.
»Liegt das Untersuchungsergebnis schon vor, Doc?« fragte der Boxer schleppend. Vor dem schwersten Kampf, dem gefährlichsten Gegner hatte er nicht soviel Angst gehabt wie vor Doc Farmers Antwort, die ihn entweder in den Himmel heben oder zerschmettern würde.
Alec Farmer zögerte. Er schaute »Big Punch« nicht an, sondern blickte in sein Glas, als gäbe es darin etwas ungemein Interessantes zu sehen.
»Ich wollte dich morgen zu mir bitten, Jimmy«, sagte er schließlich mit belegter Stimme.
»Ich bin okay, nicht wahr? Wie könnte es anders sein? Ich fühle mich großartig, könnte Bäume ausreißen. Ein weiteres Jahr im Ring kann ich bei dieser Konstitution problemlos riskieren, richtig? Warum sagen Sie denn nichts, Doc?«
»Weil das, was du sagst, leider nicht den Testergebnissen entspricht, ›Big Punch‹. Du warst ein ausgezeichneter Boxer. Es war eine Freude, dir beim Kämpfen zuzusehen. Du warst ein Ästhet im Ring, kein Schlächter.«
Der Boxer lachte blechern. »Verdammt noch mal, reden Sie doch nicht in der Vergangenheit über mich, das hört sich ja wie der Nachruf auf einen Toten an. Ich bring’s noch immer, Doc.«
Alex Farmer nickte ernst. »Ja, Jimmy, noch.«
Hawn musterte den Sportarzt erschrocken. Noch war das Schreckliche nicht ausgesprochen, noch war das Fallbeil oben, aber gleich würde Doc Farmer den Auslöser betätigen.
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte »Big Punch« mit vibrierender Stimme.
»Es gibt Situationen, da verfluche ich den Tag, an dem ich beschloß, Arzt zu werden«, sagte Doc Farmer deprimiert. »Medizin und Technik sind heute schon verblüffend hoch entwickelt. Trotzdem gibt es immer wieder Krankheiten, die wir nicht in den Griff kriegen, gegen die wir machtlos sind.«
Der Boxer wischte sich mit der Hand über die schweißbedeckte Stirn. »Heißt das, Sie haben eine solche
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