1867 - Der TraumtÀnzer
gewartet. Er brauchte nur das Messer zu heben und zuzustoßen. Vielleicht reichte es schon, wenn er die Klinge in den richtigen Winkel brachte, und Dreur tötete sich durch den eigenen Schwung.
Saedelaere tat einen raschen Schritt zur Seite. Gleichzeitig riß er das Messer hoch. Jedenfalls hatte er das tun wollen.
Doch der linke Arm bewegte sich um keinen Millimeter, er hing ebenso schlaff vom Körper wie der rechte. Saedelaere spürte eine fremde Gewalt, die seine Nervenknoten mit irrsiniger Gewalt blockierte.
Jenseitsdreur!
Der Zwilling, der in der Haut gefangen steckte, griff jetzt an.
Saedelaere mußte zugeben, daß es keinen schlimmeren Augenblick gab. Seine Finger zuckten wie unter Schüttellähmung. Er konnte nicht zustoßen. Es ging nicht mehr.
Den Augenblick der Unsicherheit - solange er nicht wußte, ob er in den Abgrund springen oder weiterkämpfen sollte - nutzte sein Gegner aus.
Dreur traf mit einem furchtbaren Schlag seine Seite. Saedelaere wirbelte durch die Luft. Er hörte, wie er einen Schmerzensschrei ausstieß, und er fühlte, daß sein rechter Arm, der in der Binde hing, mit dem Schlag ein zweites Mal gebrochen wurde, dieses Mal knapp oberhalb des Ellenbogens. Vielleicht war es auch das Schultergelenk, das zerschmettert wurde.
Jenseitsdreur hatte ihn hereingelegt. Der Philosoph hatte ihn über seine wahre Stärke getäuscht.
Er versuchte, sich noch einmal aufzurappeln, doch er war nicht mehr dazu imstande.
In dem Moment kam Dreur heran.
Saedelaere sah den seltsamen Schädel über sich auftauchen. Ein aufgerissenes Auge blickte zu ihm herab. Uber die Schulter des Wesens lief ein dünnes Rinnsal, eine weiße Flüssigkeit; vermutlich war es Blut, das aus der momentan nach hinten gekehrten Wunde tropfte.
Ein letztes Mal versuchte er hochzukommen. Es hatte keinen Sinn, Jenseitsdreur blockierte seinen Bewegungsapparat.
Er fühlte seinen Hals wie in einem Schraubstock eingezwängt. Der Druck auf Saedelaeres Kehlkopf wurde so groß, daß er beinahe das Bewußtsein verloren hätte. Hinzu kamen die Schmerzen in der rechten Seite.
Er hatte das Gefühl, daß an seinem Körper nichts mehr wirklich heil war.
Aus dem geöffneten Mund des Philosophen drangen Worte. Sie klangen wie Vorbeivorbeivorbeiterraner oder Zuendendende. Er konnte die Worte nicht verstehen und die Silben nicht voneinander trennen.
Ein Teil von ihm zuckte noch, es waren die Beine, aber ohne Koordination war an Aufstehen oder gar an Flucht nicht zu denken.
Mit einemmal gelang es ihm, den linken Arm hochzubringen. Bevor er Zeit hatte, etwas zu unternehmen, wurde ihm die Faust zur Seite geschlagen. Dreur war sehr viel kräftiger als er.
Saedelaere gab auf. Er sah keine Möglichkeit, seinen Tod noch herbeizuführen, ganz zu schweigen davon, daß er Dreur nun keinen Widerstand mehr leisten konnte. Indem er den Kampf aufgenommen hatte, statt sofort Selbstmord zu begehen, hatte er einen unverzeihlichen Fehler gemacht.
Vorbeivorbeivorbeiterraner ...
Das grüne Gesicht mit der Funktionsleiste kam ganz nahe heran. Jeder Quadratmillimeter in seinem Gesicht wurde gemustert, als befinde sich der Philosoph auf der Suche nach einem bestimmten Detail, das er noch vermißte.
Und dann passierte etwas, womit Alaska Saedelaere nicht gerechnet hatte: Dreur legte die Hände um seinen Hals. Der Philosoph hatte anscheinend den Entschluß gefaßt, ihn zu erwürgen.
Saedelaere konnte sich das nicht erklären, und er wußte nicht, ob er entsetzt oder erleichtert sein sollte.
Irgend etwas mußte er übersehen haben.
*
Benjameen von Jacinta öffnete und schloß die Augen ein dutzendmal. Dann erst war er bereit, seine Wahrnehmung als Realität zu akzeptieren: Über ihm spannte sich ein enges, in dumpfen Brauntönen schimmerndes Firmament. Wenn er sehr genau hinsah, zerfiel der Himmel in Details, die sich zu einer Art Landkarte fügten. Es war die Hohlwelt. Zwanzig Kilometer Durchmesser, der Ursprung des Verderbens. Von hier wurde das Kritzelphänomen ausgelöst. Jeder Punkt war von überall leicht einzusehen, es sei denn, er lag in unmittelbarer Nähe und war von den Felsen verdeckt.
Benjameen wußte nicht, ob er sich wirklich körperlich in dieser Welt aufhielt. Vielleicht war er nur ein Geist. Aber er war anwesend, welche Erklärung es dafür auch immer geben mochte. Er wußte genau, daß er schlief und daß er träumte, doch es war ein völlig anderes Gefühl als normalerweise. Benjameen war sicher, daß er in diesem Traum sogar
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