188 - Der lebende Nebel
großer Spaß. Vermutlich hatte der Grindrimkonsum ihn noch sanftmütiger werden lassen, als er es ohnehin schon war. Vielleicht sah er die Gefahr nicht, in der er schwebte.
Rulfan zog den Kopf wieder ein. Eins stand fest: Ohne Victorius würde er Loaloa nicht verlassen. Er war entschlossen, ihn auch gegen seinen Willen mitnehmen. Doch dazu musste er erst einmal verhindern, dass die Brüder ihm etwas antaten.
Ein Knarren! Rulfan fuhr herum und unterdrückte einen Fluch. Der Malaie, den er an der Treppe niedergeschlagen hatte, war wieder auf den Beinen. Schon sprang er – einen Säbel in der Hand – durch den Türrahmen, trat einen Stuhl um und brüllte wie ein Stier, als müsse er sich Mut machen.
Rulfan fragte sich, ob es sinnvoll war, durchs Fenster zu springen und Victorius seinem Schicksal zu überlassen. Er verwarf die Idee, stellte sich wütend dem neuen alten Gegner und trieb ihn mit festen Hieben in den Korridor zurück. Der Malaie war ein lausiger Fechter; seine Muskeln waren auch nichts, worüber sich daheim zu rühmen lohnte.
Sieben, acht klirrende Schläge weiter zerbrach die Klinge des Angreifers in zwei Teile. Der Mann selbst schlug mit dem Rücken gegen die Tür des Raums, in dem seine Brüder Liwán und Victorius bedrohten.
Jetzt flog die Tür auf und traf auf Widerstand: den ohnehin lädierten Hinterkopf des Möchtegern-Meuchlers, der daraufhin seufzend zu Boden sank. Kaoma im Türrahmen erstarrte. Dann sprang er – die Klinge im Vorhalt – nicht etwa auf Rulfan zu, sondern an ihm vorbei und zur Treppe, die er mit viel Getöse hinab lief, als befände sich dort der Feind. Der verdutzte Rulfan hechtete in den Raum hinein, in dem einer der Brüder Victorius noch immer mit dem Säbel in Schach hielt. Liwán kniete hustend auf dem Boden und massierte ihren Hals.
Als der Malaie den Albino mit dem wehenden weißen Haar auf sich zustürmen sah, vergaß er seinen Auftrag und sprang durch das offene Fenster.
»Rulfan!« Victorius wirkte sehr erfreut. »Du glaubst nicht, was in der letzten Viertelstunde hier los war!«
Rulfan schaute sich um. Man konnte nie wissen. »Und ob ich das glaube.« Er packte den Arm seines Freundes. »Los, komm. Wir müssen hier weg! Ich wette, dieser feige Hund trommelt seine Mannschaft zusammen!«
Victorius schaute Rulfan an, als hätte der eine Schraube locker. Dann schüttelte er den Kopf. »Ah, ein Scherz!« Er lächelte so verträumt, dass Rulfan erkannte, dass er noch immer unter dem Einfluss des grünen Likörs stand. Er wirkte tatsächlich wie ein großes Kind. »Folgendes: Von hier kriegen Victorius keine zehn Wakudas fort«, sagte er allen Ernstes.
»Die Insel ist das Paradies, und ich habe meine große Liebe gefunden. Nein, ich bleibe hier!«
»Einen Dreck wirst du!« Rulfan verlor keine weitere Zeit damit, den Grindrim-Junkie überzeugen zu wollen, dass ihm hier nichts als der Tod winkte. Seine Faust traf Victorius unters Kinn und schickte ihn ins Reich der Träume.
***
Ich weiß, es ist unfair, dachte Rulfan, als er, den ohnmächtigen Prinzen auf dem Rücken, durch die Nacht eilte. Die PARIS war nicht mehr fern. Liwán ist ein nettes Mädchen, und Victorius hätte sie verdient gehabt. Irgendwann, wenn ich mehr Zeit habe, entschuldige ich mich bei ihm.
Andererseits empfand er wenig Mitleid. War eine aus einem Rausch entstandene Entscheidung mehr als einen Schuss Pulver wert? Wenn Victorius wieder nüchtern war, würde er die Dinge gewiss anders sehen. Waren sie erst einmal in der Luft, und die Wirkung des Grindrim ließ nach, würde er erkennen, dass Rulfan nur zu seinem Besten gehandelt hatte.
Das heiß: Wenn die depressive Phase hinter ihm lag, die dem Rausch folgte…
»Halt! Wer da?«
Der Ruf riss Rulfan aus seinen Gedanken. Chira sprang ihm freudig bellend entgegen. Ein Mann – Yonniboi – stand in der Luke der Luftschiffgondel. Als Rulfan aus dem Palmenwäldchen hervortrat, erhellte der Mond den prallen Ballon, der majestätisch über der Gondel in der Luft hing.
Yonniboi hatte Feuer gemacht. Er hatte die Funktionsweise der Dampfmaschine durchschaut und sich als technisch begabt erwiesen.
»Rulfan?«
»Ja, ich bin’s!«
Yonniboi nahm ihm die Last ab, schleppte sie in die Gondel und legte sie in die Hängematte.
»Ist das dein Freund Victorius? Wirst du verfolgt?« Er schaute hinaus. Rulfan nahm an, dass er nicht gern mit ihm gesehen werden wollte.
»Ja, das ist Victorius. Mit Verfolgern müssen wir rechnen, auch wenn ich keine gesehen
Weitere Kostenlose Bücher