188 - Der lebende Nebel
habe. Es gab einige Tote in der Familie Saleh…« Rulfan berichtete mit knappen Worten, was geschehen war.
»Ach du liebe Güte«, rief Yonniboi aus. »Das gibt mächtigen Ärger!« Er sah noch einmal durch die Luke hinaus.
»Ich hab den Ofen in Betrieb genommen, der Kessel ist zum Platzen voll. Du kannst sofort abheben.« Er deutete auf einen prallen Rucksack auf dem Tisch. »Ich hab auch noch etwas Proviant eingepackt. Eure Vorräte waren nicht gerade üppig.«
Rulfan klopfte ihm auf die Schulter. »Danke, mein Freund. Ich weiß nicht, was wir ohne dich gemacht hätten.«
Yonniboi drückte seinen Arm. »War schön, dich getroffen zu haben, Rulfan. Und deinen Lupa.« Er tätschelte Chiras Kopf.
»Er ist eigentlich eine Sie«, erwiderte Rulfan und warf ebenfalls einen Blick hinaus. Es war jetzt völlig dunkel.
»Oy.« Yonniboi trat an die Luke.
»Ich hau jetzt ab. Ich muss ‘n paar Leute bestechen, damit sie mir ‘n Alibi verschaffen. Kaoma wird jeden in die Mangel nehmen, der in deiner Gesellschaft gesehen wurde…« Er zog ein Beil aus seinem Gurt. »Ich mach die Leinen los! Mast- und Schottbruch, Rulfan! Und geh der Familie Saleh besser für den Rest deines Lebens aus dem Weg!« Er sprang hinaus und drehte sich um. »Wenn ich’s mir recht überlege, solltest du von jetzt an jedem Malaien aus dem Weg gehen…«
***
Die Taue knirschten. Die Propeller sangen. Im Ofen gloste das Feuer. Die Dampfmaschine schnaufte, dass es eine Freude war.
Es war Stunden her, seit die Männer mit den Laternen aus dem Dunkel hervorgestürzt waren und sich auf den Platz ergossen hatten, von dem die Roziere kurz zuvor gestartet war.
Sie hatte ungefähr dreißig Meter über den Palmwipfeln geschwebt. In Rulfans Ohren schallte noch das frustrierte Gebrüll aus heiseren Kehlen. Die finsteren Gestalten waren aufgeregt hin und her gelaufen und hatten eine ganze Weile gebraucht, bis ihnen das Luftschiff aufgefallen war, das sich nach Südwesten entfernte.
Kaomas Leute hatten wie vom Donner gerührt da gestanden und sich an ihren Laternen, Fackeln und Säbeln festgehalten.
Vermutlich verfluchten sie ihn jetzt, aber das war Rulfan gleichgültig. Er würde diese Typen nie wieder sehen: Er flog seit Stunden nach Südwesten.
Der Propeller schnurrte. Das Ruder war festgeklemmt.
Rulfan trat zu Victorius, der in der Hängematte schlief. Als er sich über ihn beugte, öffnete Victorius ein Auge und sagte:
»Folgendes: Dass die Welt ein Paradies und die Frau sein natürlicher Bewohner ist, dürfte eine Erkenntnis sein, die zu hören viele Gelehrte in meines Vater Reich seit Generationen gewartet haben…«
»Na, ich weiß nicht…« Rulfan legte beide Arme auf den muskulösen Oberkörper seines Freundes, um ihn, falls nötig, am Aufstehen zu hindern. Doch schien Victorius gar nicht aufstehen zu wollen. Er schenkte dem Grau, das draußen allmählich die Schwärze der Nacht ablöste, keinen Blick, sondern schloss die Augen und schlief wieder ein.
Als Rulfan sicher war, dass er wirklich in Morpheus’ Armen ruhte, kehrte er an seinen Aussichtspunkt zurück, lauschte dem Propeller, der sie auf Kurs hielt, und hing seinen Gedanken nach. Solange der Kessel Dampf hatte, war alles gut. Seiner Schätzung nach mussten sie Australien in zwei Tagen erreichen. Vermutlich würde er den Kontinent schon bald sehen…
Wenn Victorius mit Abklingen des Grindrim-Rausches der Katzenjammer überfiel, würde es nicht leicht fallen, ihn an einer Rückkehr zu hindern. Schließlich war es sein Luftschiff.
Rulfan hatte nicht vergessen, wie ihm selbst am Morgen nach dem Rausch zumute gewesen war. Dabei hatte er nur zwei Gläser Grindrim getrunken. Was mochte Victorius erst empfinden, nachdem Liwán ihn eine ganze Nacht und einen ganzen Tag mit dem Zeug versorgt hatte? Wie würde er sich verhalten, wenn der Entzug einsetzte? Würde er es ihm übel nehmen, dass er ihn niedergeschlagen und entführt hatte?
Chira, die sein Unbehagen spürte, schmiegte den Kopf an sein Knie und winselte leise. Rulfan kraulte sie hinter den Ohren, dann schob er den Kopf ins Freie, atmete die frische Luft ein und hielt nach der Fledermaus Ausschau, die den Ballon seit Mitternacht umkreiste. Seit er an Bord war, flatterte Titana jede Nacht ins Freie. Victorius hatte angedeutet, dass sie nach Vögeln Ausschau hielt, denn Krallen und Schnäbel waren der natürliche Feind eines Ballons.
Nun ja… Wer glaubte, dass Titana und Victorius eine telepathische Einheit waren und das Tierchen
Weitere Kostenlose Bücher