188 - Der lebende Nebel
Katamaran ging vor der Dschunke längsseits. Zwei Männer sprangen mit Tauen an Land und banden das Schiff fest. Dann hörte Rulfan einen Pfiff.
Kaoma reckte den Hals und winkte jemandem an Land zu.
Gleich darauf kamen mit Säbeln, Äxten und Armbrüsten bewaffnete Männer aus dem Busch. Bei ihnen befand sich auch der Bengel, den Rulfan verfolgt hatte. Er trug einen Schwung Pechfackeln unter dem Arm. Victorius konnte er nirgends entdecken; falls sie ihn geschnappt hatten, hielt er sich vermutlich in ihrem Stützpunkt auf.
Einer der Ankömmlinge – ein dünner Bart zierte seine Oberlippe, doch ansonsten sah er wie Kaomas Zwilling aus – umarmte den an Land gesprungenen Kapitän und verbeugte sich unterwürfig. Anschließend quakte er ihm wie eine arrogante Ente etwas vor, das nicht Kaomas Beifall fand: Das Oberhaupt der Familie Saleh bekam einen Wutanfall und versetzte dem anderen eine schallende Ohrfeige.
Schnauzbart katzbuckelte erneut und brüllte nun den Bengel an, der eilig seine Fackeln verteilte.
Rulfan wusste nicht, was den Unwillen des Malaien erregte, doch der Aufmarsch dieser Leute konnte durchaus ihm gelten.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sogar.
»Wagong!«, brüllte Kaoma. Schnauzbart, der seinem Gefolge gerade Anweisungen gab, drehte sich auf dem Absatz herum.
Kaoma zog seinen Säbel, fuchtelte in der Luft herum und brüllte Worte, die Wagong und die anderen in hektische Betriebsamkeit versetzten. Sekunden später strömte die ganze Schar – knapp zwanzig Mann – mit brennenden Fackeln in die Richtung, in der die Roziere gelandet war. Nur einer blieb zurück: der Junge. Er schaute griesgrämig hinter den Männern her. Hatte Wagong ihm eine Abfuhr erteilt?
Rulfan konnte nur vermuten, was Kaoma plante: Fackeln waren nicht nur in der Finsternis hilfreich; wahrscheinlich schützten sich die Salehs mit dem Feuer gegen Angriffe einheimischer Tiere… und gegen die Mücken!
Der Bengel verschwand im Dickicht. Rulfan schaute sich um. Kaoma und seine Truppen waren untergetaucht und im Moment keine Gefahr für ihn. Er kannte ihr Ziel nicht, aber selbst wenn sie die PARIS finden würden: Es wäre Selbstmord, sich diesen Leute allein in den Weg zu stellen. Dagegen war es nicht dumm, sich an die Fersen des Jungen zu heften und in Erfahrung zu bringen, wo sich der Unterschlupf der Familie Saleh auf dieser Insel befand. Wenn sich Victorius in ihrer Gewalt befand, waren seine Chancen, ihn zu befreien, jetzt am größten. Und wenn ihm dies gelang, bevor die Bande zum Versteck zurückkehrte, gab es sicher auch noch eine Möglichkeit, die Dschunke zu versenken und mit dem Katamaran zu fliehen…
Rulfan folgte dem Jungen also. Das Bürschlein wirkte leicht ungehalten, denn es trat im Vorbeigehen gegen Palmenstämme und andere Gewächse und stieß in seiner Muttersprache Töne aus, die wie Flüche klangen. Er war sauer. Der Grund seines Unmuts spielte keine Rolle. Rulfan war nur eins wichtig: Wer seine Wut an Dornbüschen ausließ, achtete nicht darauf, wer ihn bis zur Haustür verfolgte.
Er verharrte, als der Junge hinter einem von dicken Säulen gestützten Eingangsportal in einem Erdhügel verschwand. Fünf Stufen führten die Treppe hinauf. Hinter dem Portal flackerte Licht.
Rulfan wartete mehrere Minuten, schaute sich um und lauschte. Er sah nirgendwo Wachen. War der gesamte Stützpunkt losgezogen, um ihn zu jagen? Wenn ja, brauchte er nur etwas Glück: Das Portal war von keinem Tor verschlossen.
Mit der Arquebuse in der Linken setzte Rulfan sich geduckt in Bewegung. Wenn er Victorius nicht schnellstens fand, musste er sich vielleicht den Burschen vorknöpfen. Jungen seines Alters waren sicher leicht zu beeindrucken. Meist brauchte man nur die Zähne zu fletschen, und…
Twänggg! Rulfan wunderte sich über das eigenartige Geräusch. Als er begriff, dass eine Fußangel ihn erwischt hatte, war es schon zu spät. Sein erschreckter Zeigefinger betätigte den Abzug des Schießprügels.
Ein ohrenbetäubendes Krachen stach in Rulfans Gehör, und ein Gedanke fuhr wie ein Blitz durch sein Hirn: Ich bin erledigt! Den Knall hat man auf der ganzen Insel gehört!
***
Clarice und ihre Gefährten Vogler und Quart’ol hatten den ganzen Tag in einem Dschungel verbracht, in dem es von insektoidem Leben wimmelte. Es hatte lange gedauert, bis sie sich getraut hatte, den Helm zu öffnen, um frischen, ungefilterten Sauerstoff zu atmen.
Die meiste Zeit hatte Clarice auf dem Bauch gelegen, da die
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