189 - Die Regenbogenschlange
eben nicht aufsuchen. Ich dachte nur, es wäre interessant, endlich etwas über meinen Stamm zu erfahren, nachdem du und Morris all die Jahre ein Geheimnis daraus gemacht habt. Tut mir Leid, wenn ich dich erschreckt habe, aber es ging mir durch den Kopf, und du weißt ja, wie ungeduldig ich bin, wenn ich etwas wissen will.«
Elane war sichtlich erleichtert über sein Einlenken.
»Es soll kein Geheimnis sein, Chris. Und es tut mir Leid, dass ich dir nicht helfen kann. Ich habe einfach Angst um dich. Man weiß nicht, was in den Köpfen dieser Wilden vorgeht. Es gibt viele Gerüchte um den Stamm, der dich aussetzte. Andere Stämme meiden ihn, er fristet völlig zurückgezogen sein armseliges Dasein. Vermutlich wird der Stamm bald aussterben, weil diese Aborigines sich der neuen Zeit einfach nicht anpassen können. Ihr Leben ist so ganz anders als das unsrige. Sie glauben an Dämonen und Geister und verstümmeln sich in Ritualen… Ich möchte einfach nicht, dass sie dir wehtun.«
Chris berührte das Mal an seiner Schläfe. Die fremde Anangu, die dasselbe Mal trug, brauchte ihn. Sie war ihm nicht feindlich gesinnt, und sie hatte sicher nicht vor, ihm Schmerzen zuzufügen. Könnte sie seine Schwester sein? Er dachte mit Unbehagen an seine sexuelle Erregung.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Chris bemühte sich um ein glaubhaftes Lächeln. »Ich war nur neugierig, das ist alles.«
»Ich verstehe dich, Chris.«
Nein, dachte er kalt und traf seine Entscheidung. Niemand versteht mich. Ich verstehe mich ja selbst nicht.
»Ich gehe dann meine Sachen packen. Nick und ich fahren nach Norden ans Meer. Bondi und Manly sind am Wochenende immer zu sehr von Touristen überlaufen, und Nick bekommt die Schlüssel für das Wochenendhaus seines Vaters. Wir sind am Mittwoch oder Donnerstag wieder da. Nach den ganzen Prüfungen müssen wir einfach raus.«
Elane lächelte. »Ich wäre auch noch mal gerne Studentin, trotz all der Prüfungen. Nimm dir was von den Nudeln in der Küche, bevor du fährst, und pass auf dich auf.«
Chris ging auf sie zu. »Das mache ich.« Er umarmte sie. Es war sonderbar, sie zu belügen. Niemals zuvor war es nötig gewesen. Langsam löste er sich von ihr und verließ sie.
Nick hatte in Wahrheit den Ausflug ans Meer abgesagt, denn er hatte eine neue Freundin und wollte mit ihr in irgendein Theater.
Aber seine Eltern waren beruhigt, wenn sie Chris auf einem harmlosen Ausflug wähnten. Es war zu ihrem eigenen Besten, verteidigte er seine Lüge vor sich selbst. Und außerdem – war es nur gerecht, schließlich verschwiegen sie ihm seine Herkunft. Also musste er es selbst herausfinden. Er packte seine Sachen und warf sie in den alten grünen Land Rover, den er stolz sein Eigen nannte. Wenn es diese fremde Frau in seinen Träumen wirklich gab, musste er es erfahren. Er fühlte ein Drängen in sich, dem er nachgeben musste. Und eine Sehnsucht nach ihr, die ihm keine Ruhe ließ.
***
Letztendlich hatte Aruula es doch geschafft. Sie hatte langsam und deutlich gefragt: »Woher kommst du, Kleine?« und ihre Frage mit einfachen, aber möglichst ausdrucksvollen Gesten begleitet. Das Kind beruhigte sich allmählich und fing an, Aruula nicht nur wahrzunehmen, sondern sie auch zu beobachten. Schließlich war es so weit, dass es zaghaft anfing, die Gesten zuerst nachzuahmen, dann zu beantworten.
Gleichzeitig bekam Aruula mit ihrem Lauschsinn endlich ein verwaschenes Bild vor Augen, das ihr einigermaßen anzeigte, wohin sie sich wenden mussten.
Aruula hatte sich das Kind genau angesehen, irritiert wegen der gespaltenen Pupillen, aber das schien der einzige Makel zu sein. Ansonsten wirkte es gesund und kräftig, lediglich die Haut ein wenig kühl, aber das mochte daran liegen, dass das Mädchen einige Zeit im Schatten zwischen den Felsen zugebracht hatte.
Aruula nahm einen kräftigen Zug aus dem Wasserbeutel und gab dem Kind den Rest, bevor sie sich auf den Weg machten.
Während des Weges, auf dem Aruula das Kind die meiste Zeit trug, sah sie sich immer wieder um. Sie fühlte sich nach wie vor beobachtet, und sie fragte sich, inwieweit dies eine Illusion ihres übermüdeten Geistes war, eine Art Wunschgefährte, weil sie so allein war. Nach wie vor konnte sie sich nicht zusammenreimen, was während des Kampfes gegen die beiden Räuber geschehen war.
Die Berge waren inzwischen sehr nahe gerückt. Nach der Beschreibung des neuen Treckführers des Roodtrens war es nun nicht mehr weit; hinter den Bergen
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